Willkommen in Oblivion

23.4.2013, 09:44 Uhr
Willkommen in Oblivion

© Winckler

Es begann damit, dass Alisa krank wurde. Bis dahin hatte ich mich wohlgefühlt auf der abgelegenen Insel, die nun unser Zuhause war. Auf den Felsen wuchs Macchia, es duftete nach Myrte und wildem Thymian. Man hörte Vogelschreie, Wind und Wellen. Nichts sonst. Wir waren mit Kind und Kegel aus den grauen Städten im Norden gekommen, hatten Staus und Feinstaub, Facebook und Twitter, das unaufhörliche Summen und Dröhnen der Zivilisation hinter uns gelassen. Natürlich gab es auch Streit in unserer kleinen Kolonie, aber im Großen und Ganzen waren wir uns einig, wie wir leben wollten. Und die Insel war ja nicht ganz aus der Welt. Mit unserem Schnellboot waren wir in vier Stunden am Festland.

Alisa und die anderen Kinder hatten sich schnell eingelebt. Sie waren sonnverbrannt, halb wild und kannten jeden Stein auf der Insel. An dem Tag, an dem Alisa krank wurde, waren sie spät nach Hause gekommen, ich hatte mir schon Sorgen gemacht. Als sie endlich in der Tür unseres Blockhauses stand, war ich zornig und erleichtert zugleich. „Wo wart ihr?“, fragte ich streng. „Spielen.“ Alisa sah zu Boden. „Wo?“ Zögernd gab sie es zu: „In der alten Stadt.“ Wir hatten den Kindern streng verboten, in der Ruinenstadt zu spielen. Nicht auszudenken, wenn sich Mauerbrocken lösten. „Du weißt...“, begann ich. Sie fiel mir ins Wort: „Komm, Mama, du brauchst keine Angst haben, wirklich.“ Es klang so erwachsen, wie sie das sagte. So fremd. Ich starrte sie an. „Du hast ja Fieber.“ In Alisas Augen lag ein unnatürlicher Glanz, die Pupillen waren geweitet. Ich legte die Hand auf ihre Stirn. „Es geht mir gut, Mama“, wehrte sie ab. Ich seufzte. „Ab ins Bett“, sagte ich, „und keine Widerrede.“

Wir hatten uns unterhalb der alten Stadt angesiedelt, die auf dem Südhang des Berges lag. Von weitem sah es aus, als wäre sie den Felsen entwachsen. Ein gepflasterter Weg führte durch die ummauerte Unterstadt zu einer Zitadelle auf der Höhe. Durch die Ritzen brach Gras, doch die Häuser waren gut erhalten. Man hätte meinen können, sie wären eben erst verlassen worden.

In einer der ersten Nächte hatten Max und ich die alten Gassen erkundet. Es kam uns vor, als gingen wir auf Zeitreise. Ein Wimpernschlag, und überall wäre Leben. Handwerker, Soldaten, spielende Kinder... Ein huschendes Geräusch ließ mich herumfahren. Ich fröstelte. Der Wind war kälter geworden, die Schatten tiefer. „Lass uns gehen“, sagte ich. Max lachte. „Du wirst doch keine Angst haben?“ Ich gab es nicht zu, doch ich hatte auf einmal das Gefühl, dass wir nicht allein waren. Etwas von den Menschen, die hier gelebt hatten, war zurückgeblieben.

Alisa erholte sich schnell, doch der irritierende Schimmer in ihren Augen blieb. Ich ertappte mich dabei, wie ich sie beobachtete. Sie war nicht mehr mein kleines Mädchen, das machte mir zu schaffen. Wenig später geschah etwas, das mich völlig aus der Bahn warf: Das Schnellboot hatte einen Motorschaden. Panik stieg in mir auf. Wir saßen hier fest, ohne Verbindung zur Außenwelt. Ich drängte Max, das Boot zu reparieren. „Ja, natürlich“, sagte er, „gleich morgen.“ Die Männer bastelten an dem Boot herum, aber es fehlte irgendein Teil. Sie würden improvisieren müssen, notfalls ein kleines Boot bauen, um das Festland zu erreichen. Die Tage vergingen, doch nichts geschah. Und außer mir schien es niemanden zu stören, das machte mir noch mehr Angst.

Dann legte Alisa ihren Namen ab. „Ich heiße Aliki“, verkündete sie, „das ist schöner.“ Max nickte. „Ja, du hast recht.“ Am Abend nahm ich ihn beiseite. „Sie hat sich so verändert, und du bestärkst sie noch darin“, sagte ich. Alisa war gewachsen, ihre Haut hatte einen tiefen Bronzeton angenommen, und ihr Haar war dunkler geworden. Schwer und glänzend fiel es ihr über den Rücken. „Und schau dir ihre Augen an“, fuhr ich fort. Max zog mich vor den Spiegel. „Die hat sie doch von dir.“ Ich wich zurück. Derselbe Bronzeton, dieselben dunklen Haare, dieselben schimmernden Augen. „Du wirst immer schöner“, sagte Max. Er strich mir übers Haar. „Wir sollten nach Oblivion ziehen. In den Steinhäusern lebt es sich bestimmt angenehm.“

Ich wusste, dass er die alte Stadt meinte. „Oblivion? Wer hat sich diesen Namen ausgedacht?“ Max zuckte die Achseln. „Haben wir nicht schon immer so gesagt?“ Als wir nach Oblivion zogen, tat ich es in dem dumpfen Gefühl, mich dem Unausweichlichen zu fügen. Aber ich begann mich besser zu fühlen, und meine Ängste legten sich. Ich verstand gar nicht mehr, was mich so in Panik versetzt hatte.

Im Jahr darauf geschah, worauf ich vor nicht langer Zeit schmerzlich gehofft hatte – nun hatte ich plötzlich gemischte Gefühle: Wir bekamen Besuch. Die Fremden sahen blass und kränklich aus, und sie benahmen sich seltsam. Sie schienen etwas von uns zu wollen, aber wir verstanden ihre Sprache nicht. Wir beobachteten, wie sie laut und aufgeregt miteinander diskutierten, wie sie um die verlassenen Blockhäuser und das alte Boot streiften. Ich war froh, als sie verschwanden.

Trotzdem verspürte ich einen Hauch von Panik, als das Schiff ablegte. Ich hatte das unbestimmte Gefühl, dass es einen Teil von mir mitnahm, einen Teil, an den ich lange nicht gedacht hatte, und nun entglitt er mir für immer. Makis legte den Arm um mich. „Hab keine Angst. Orte können uns verändern, wenn wir es zulassen.“ Er hatte recht. Und es war gut so.



 

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