Fürther berichtet emotional: Weihnachten im Wachkoma

26.12.2020, 06:00 Uhr
Fürther berichtet emotional: Weihnachten im Wachkoma

© Werner Krüper/imago

Sieben Jahre liegt dieses Telefonat zurück, seither schlägt sich der kaufmännischen Angestellte Ulrich Jaeger (61) mit der thailändischen Bürokratie herum und der deutschen Rechtsprechung, und gerade erkämpfte er einen Orden für einen Arzt. Aber von Anfang an.

Der Bundesverdienstorden: Ob Eva Nordmann (Name geändert) ab und zu glücklich ist oder sich allein vom Gefühl der Sinnlosigkeit wie gelähmt fühlt – darüber kann nur spekuliert werden. Ihre Gesichtsmuskeln sind außer Kontrolle, sie liegt im Bett oder sitzt im Rollstuhl, nicht einmal mit den Augenlidern kann sie blinzeln, um zu zeigen, ob es ihr gut oder schlecht geht. Ulrich Jaeger besucht sie jede Woche, und gibt zu: „Anfangs war ich völlig überfordert.“ Seine langjährige Freundin Eva war nach ihrer Scheidung im Jahr 2011 nach Pattaya ausgewandert, zwei Jahre später lag sie auf der Intensivstation einer Klinik in Bangkok; kurz vorher hatte sie geäußert, dass sie nach Deutschland zurück wolle. In ihrer Geldbörse lag einen Zettel mit Ulrich Jaegers Namen, so kam es zu dem nächtlichen Anruf.

Professor Andreas Zieger, Facharzt für Neurologie,   hat den Bundesverdienstorden erhalten.

Professor Andreas Zieger, Facharzt für Neurologie,   hat den Bundesverdienstorden erhalten. © privat

Bis heute findet Jaeger Hilfe bei dem Neurochirurgen Andreas Zieger. „Er unterstützt mich, wo er kann, er hat noch nach 23 Uhr auf meine E-Mails geantwortet. Er ist Arzt aus Berufung.“
Ulrich Jaeger schlug Zieger für den Verdienstorden vor, und erhielt kürzlich Post von der Niedersächsischen Staatskanzlei: Gerade wurde dem Facharzt für Neurochirurgie und Rehabilitationswesen das Verdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland verliehen. Professor Doktor Zieger, Jahrgang 1949, war seit 1997 Leitender Oberarzt der Station für Schwerst-Schädel-Hirngeschädigte im Evangelischen Krankenhaus Oldenburg. Seit 2015 ist er im Ruhestand, doch blieb in zahlreichen wissenschaftlichen Beiräten aktiv. Was ihn am Medizinbetrieb am meisten stört: „Aus der Perspektive der biotechnischen Medizin wird der Patient zum Kunden, zum Erlösmodell.“


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Awo-Sozialzentrum/Erlangen: Heute lebt Eva Nordmann auf einer Station, die auf Wachkoma-Patienten spezialisiert ist. An ihrem Bett hängen Fotos, sie zeigen eine schöne Frau, erfolgreich und reiselustig. Doch aus ihrem Leben erzählen kann sie nicht. Sie wirkt wach – doch befindet sich in einem Zustand zwischen Wachkoma und Minimalbewusstsein, die Umhüllung ihrer Nervenfasern im Hirnstamm ist beschädigt, heißt es in einem Arztbrief. „Professor Zieger hat mir wertvolle Tipps gegeben“, sagt Ulrich Jaeger. „Mir war nicht klar, dass Wachkoma-Patienten nicht bewusstlos sind. Sie können Signale von außen aufnehmen und verarbeiten, auch wenn sie nicht reagieren. Deshalb sollte man am Bett von Wachkoma-Patienten auch nicht über sie, sondern mit ihnen sprechen.“

Fürther berichtet emotional: Weihnachten im Wachkoma

© Michael Fischer, NN


Der Krankentransport: Ulrich Jaeger traf eine folgenschwere Entscheidung: Über die Deutsche Botschaft und den ADAC organisierte er den Krankentransport. Eva Nordmann kam mit einem Nachtflug von Bangkok nach Frankfurt, auch ein Arzt und eine Pflegerin waren an Bord. „Sie reagierte nicht, sie weinte nur.“ Wie einer schwerkranken Frau das Leben so erträglich wie möglich gestalten? Diese Frage treibt Ulrich Jaeger seither an, zeitgleich begann damals für ihn ein zweijähriger Nervenkrieg mit den thailändischen Behörden. Er selbst spricht von „einer aufregenden Story“.

Andere Länder, andere Gerichtsverfahren: Um die Pflege bezahlen zu können, musste Jaeger Nordmanns thailändische Konten auflösen – doch als Betreuer erhielt er von der Bank nicht einmal eine Antwort. Die Deutsche Botschaft konnte nicht helfen, die Thailändische Botschaft verwies ihn wieder an die Deutsche Botschaft zurück. Ein deutscher Rechtsanwalt, der eine Kanzlei in Pattaya betreibt, teilte mit: Das thailändische Recht kennt nur Familienmitglieder als Betreuer. Dass ihn das Berliner Amtsgericht Schöneberg, das für Deutsche im Ausland zuständig ist, zum vorläufigen Betreuer bestellt hatte, half nicht weiter. Es fehlt an internationalen Abkommen, ein neues Gerichtsverfahren in Thailand war nötig.
Jaeger schrieb zig E-Mails, er ließ 134 Seiten Arztberichte übersetzen und flog schließlich nach Pattaya. Sein Anwalt klärte ihn auf: Er müsse ein langärmeliges Hemd tragen, vor dem Gericht eine leichte Verbeugung machen und dürfe dem Richter nicht den Rücken zukehren, die Beine nicht über Kreuz legen, und so weiter. Die Verhandlung dauert eine dreiviertel Stunde: Der Richter fragte, ob Jaeger „geistig gestört“ sei oder „vielleicht bankrott“. Jaeger verneinte. An Weihnachten 2015 wurde er auch vom thailändischen Gericht zum Betreuer bestellt, zweieinhalb Monate später überwies die Bank Nordmanns Vermögen. „Ich konnte die Kosten für das Pflegeheim in Deutschland begleichen“, sagt Ulrich Jaeger.

Reha-Maßnahmen: Intensivstation Nürnberg, Reha-Klinik Bad Windsheim, schließlich ein Aufenthalt in einer Spezialklinik im schwäbischen Burgau – es dauerte Monate, bis Eva Nordmann aufhörte, zu weinen. Und während ihr Bekannter und Betreuer den zeit- und arbeitsintensiven Papierkrieg mit den thailändischen Behörden führte, stand er im ständigen Kontakt mit der Krankenkasse und den deutschen Behörden.
Endlich ein Lichtblick: Jaeger ist sicher – in der Wachkoma-Station, die von der Arbeiterwohlfahrt in Erlangen betrieben wird, fühlt sich Eva Nordmann wohl. Bei seinen wöchentlichen Besuche fällt ihm auf, dass sie reagiert, wenn im Fernsehen Tierfilme laufen. „Eva war schon immer tierlieb, im Ausland kümmerte sie sich um streunende Hunde.“

Der beste Freund des Menschen: Hunde führen Blinde, sie können Krebstumore frühzeitig erschnüffeln oder ihre Besitzer vor epileptischen Anfällen warnen – und es sieht so aus, als könne die Wissenschaft zunehmend beweisen, was Hunde noch alles können. So belegt eine Fallstudie der Uniklinik Halle, dass Koma-Patienten von Therapiehunden profitieren. Beobachtet wurde eine 27 Jahre alte Patientin, sie lag zu diesem Zeitpunkt seit fünf Jahren im Wachkoma. Eine Therapeutin besuchte die Patientin mit ihrem ausgebildeten Labrador insgesamt 54-mal, jede Sitzung dauerte eine Dreiviertelstunde. Die Reaktionen der Patientin wurden in Videos festgehalten, auch die Atem- und Herzfrequenz, Anspannung der Muskulatur und die Körpertemperatur erfasst. Zum Ende schaffte sie es, auf Aufforderung das Futter für den Hund festzuhalten und ihren Arm nach ihm auszustrecken. Gelang es ihr nicht, kamen ihr Tränen. Das Fazit des Forschers Professor Doktor Malte Kornhuber, jetzt als Chefarzt der Neurologie in der Helios Klinik Sangerhausen tätig: „Reste höherer Hirnfunktion waren vor Aufnahme der hundegestützten Therapie vorhanden, doch wurden durch die Therapie erkennbar.“ Die Bewegungen der Patientin ließen sich im Anschluss für eine einfache Kommunikation im Sinne von „Ja/Nein“-Antworten nutzen.

Hunde gibt’s nicht auf Rezept: Die Studie machte Jaeger Mut. Er schickte die Ergebnisse an den Gemeinsamen Bundesausschuss, den Spitzenverband der Krankenkassen. Dennoch wurde es abgelehnt, die tiergestützte Therapie in das Hilfsmittelverzeichnis aufzunehmen, Auch Nordmanns Kasse lehnte die Zahlung ab. Eine Klage beim Nürnberger Sozialgericht scheiterte. Die Richter gaben der Krankenkasse Recht – die tiergestützte Therapie ist nicht Teil der im Sozialgesetzbuch aufgelisteten Regelleistungen, sie kann als Heilmittel nicht verordnet werden.

Das Intensivpflege- und Rehabilitationsstärkungsgesetz: „Rehabilitation ist Teilhabe“, sagt Andreas Zieger. Für ihn, den frisch vom Staat geehrten Ordensträger, gilt: „Teilhabe endet erst mit der Beerdigung eines Menschen – und keinesfalls früher.“ Wie viel Mediziner und auch Beatmungspatienten kritisiert er das im Sommer beschlossene Intensivpflege- und Rehabilitationsstärkungsgesetz als unscharf: Es lasse befürchten, dass der Patient gegenüber der Kassen bezüglich einer Zielvereinbarung am kürzeren Hebel sitzen wird.
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) wollte es mit dem Gesetz Betrüger so schwer wie möglich machen, doch dabei gerieten die Patientenrechte scheinbar aus dem Fokus. In der gesetzlichen Krankenversicherung gibt der Gesetzgeber die Rahmenbedingungen für die Ausgestaltung der medizinischen Versorgung vor. Die Einzelheiten werden von der gemeinsamen Selbstverwaltung von Ärzten und Krankenkassen im Gemeinsamen Bundesausschuss festgelegt. Dort wird derzeit beraten.

Awo-Sozialzentrum/Erlangen: Wenn Labrador Jaspar seinen Kopf auf Eva Nordmanns Arm legt oder sich der kleine Pudel Elvis auf ihren Schoß setzt, folgen Eva Nordmanns Augen den Hunden, ihre Gesichtszüge werden weicher. Sie litt unter schweren Spastiken. Mittlerweile habe sie entspannte Momente, sie nehme gezielt Blickkontakt zu anderen Menschen auf, attestiert ihre Ärztin.


Die Therapiesitzungen mit den Tieren sind dem Verein „Therapeutische Service-Hunde Mittelfranken“ zu verdanken. Die Hundebesitzer ließen ihr Tier ausbilden, ihr Engagement ist ehrenamtlicher Service, eine Aufwandsentschädigung von 18 Euro pro Einsatz zahlt Ulrich Jaeger selbst, man muss sagen, er würde sie gerne bezahlen. Denn derzeit bekümmert ihn, dass in Corona-Zeiten auch diese Besuche nicht möglich sind, die zehn Patienten auf der Station weitestgehend isoliert sind. Verwandte hat Eva Nordmann nicht. Warum sich Ulrich Jaeger all dies zumutet: „Wenn ich mich nicht kümmere, macht es keiner.“

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