Die traurige Geschichte der Kohlmüller-Buben

9.1.2021, 06:04 Uhr
Die traurige Geschichte der Kohlmüller-Buben

© Illustration: Klaus Selz

Bei ihren Recherchen fand Babett Guthmann in Archiven, Datenbanken und längst vergessenen Büchern überraschend viele sagenumwobene Orte und geschichtsträchtige Landschaftsmarkierungen, die man noch heute besuchen kann. Eine der Legenden sind "Die fünf Buben des Kohlmüllers". Sie führt zur Kohlmühle ins Schambachried, das kleinste und älteste Naturschutzgebiet Mittelfrankens, und hinauf auf den Treuchtlinger Nagelberg.

Die traurige Geschichte der Kohlmüller-Buben

© AB-Archiv, Wolfgang Dressler

Die Grenzen zwischen Sagen und Märchen sind nicht immer eindeutig abgesteckt. Auch diese Sage aus der Gegend um Treuchtlingen beinhaltet einen reichen Märchenstoff. Außerdem ist die christliche Botschaft sehr gewichtig und bestimmt die Handlung – und dies, obwohl auch Geisterwesen dort ihren Platz haben.

Die Schreiberin und der Illustrator haben lange überlegt, ob solch eine Geschichte in die Zeit des Jahreswechsels 2020/21 passt. Denn es geht um Trauer und darum, dass Sterben und Tod ihren Platz in jedem Menschenleben haben. Schicksalsschläge annehmen zu können und um die rechte Form der Trauer zu ringen, das sei eine Aufgabe, der sich jede und jeder einmal stellen muss.

Die fünf Buben des Kohlmüllers

Wer am Heiligen Abend die Stube des Kohlmüllers und seiner Frau betrat, dem wurde warm ums Herz. Fünf rotwangige Buben saßen da im Kerzenschein am Tisch, tauchten ihre Wecken in die Milch und ließen es sich schmecken. Lachen und aufgeregte Kinderstimmen, die von den kleinen Abenteuern des Mühlenalltags berichteten, erfüllten den Raum. Nichts fehlte der Müllersfamilie zu ihrem Glück.

Die traurige Geschichte der Kohlmüller-Buben

© Ab-Archiv, Wolfgang Dressler

Doch im selben Winter kamen die Blattern. Die Kinder lagen fieberglühend in ihren Betten, und als einmal nachts die sorgenvolle Mutter vor Erschöpfung einschlief, stieß der Totenwind das Fenster auf, und sein Hauch streifte die Buben. Alle fünf starben in jener Nacht.

Am Grab der Kinder kniete der Kohlmüller nieder und weinte in tiefer Trauer um seine Kinder. Doch seine Frau stand starr neben ihm. Keine einzige Träne rollte über ihre Wangen. Fortan haderte sie mit Gott, und in ihrem Denken zog die Frage "Warum lässt der Herr das zu?" düstere Kreise. Zorn und Bitternis bestimmten ihre wache Zeit und lenkten nachts ihre Träume.

Wecken für die toten Kinder

So verging Jahr um Jahr. Die Müllerin verrichtete mit steinernem Herzen ihre Arbeit, ließ die freudlosen Tage ohne Regung einen um den anderen verstreichen und ertappte sich immer öfter dabei, den eigenen Kindern deren Tod übel zu nehmen. Der Kohlmüller aber stand nach jedem Kirchgang am Grab seiner Kinder und rief das Bild seiner lebhaften und lebensfrohen Buben in seinen Erinnerungen wach.

An Heiligabend und am Ostersamstag legte der Müller fünf Wecken auf den Tisch und goss warme Milch in die Tassen seiner Kinder – als ob die fünf Knaben nur im Hof spielten und bald hereinstürmen würden. "Ach, was würde ich dafür geben, wenn meine Buben nur zweimal im Jahr, in der Christnacht und an Ostern, aus dem Himmel herab zu uns in die Stube kommen dürften!", seufzte er. Doch wagte er nicht, auf eine solche Gnade wirklich zu hoffen. Stattdessen wünschte er sich, es sollten fremde Kinder vorbeikommen, die Plätze seiner Buben einnehmen und sich an den Wecken und der warmen Milch stärken. Trost würden diese Kinder dem Kohlmüller bringen, und er wollte sich über sie freuen, geradeso als ob es seine eigenen Kinder wären.

Und sein Sehnen sollte sich erfüllen: Als er an Heiligabend wieder den Tisch gedeckt hatte und der Duft von Milch und frischen Wecken die Stube erfüllte, kamen über das gefrorene Ried fünf Buben auf dem schmalen Pfad zur Kohlmühle gelaufen. Der Hund meldete ihr Kommen nicht, und auch die Holztür knarrte nicht, als der größte zuerst hereinkam.

Blind und stumm vor Groll

Die Buben setzten sich an den Tisch und ließen sich die Wecken schmecken. Die Müllerin floh vor dem Anblick der fremden Kinder in die Küche. Voll stummen Grolls hockte sie am Herd und starrte ins Feuer. Der Kohlmüller aber saß mit den Buben am Tisch und freute sich an ihrem Appetit. Als die Kinder wieder aufbrachen, verabschiedete der Gastgeber sie an der Haustür mit den Worten: "Behüt’ euch Gott und kehrt bald wieder bei uns ein!"

Die Kinder folgten seiner Einladung. Am Abend vor dem Osterfest saßen sie wieder am gedeckten Tisch. Brave Buben waren das, falteten die Hände zum Tischgebet, aßen folgsam ihre Wecken und waren hernach so guter Dinge, dass sie noch munter plauderten und so die Zeit zu vergessen schienen. Die Augen des Müllers füllten sich mit Freudentränen. Ihm war es wohl dabei, seine kleinen Gäste so gut bewirten zu können.


Das "güldene Grab": Hunnen, Nibelungen und ein Schatz?


Wieder hatte die Frau sich in die Küche zurückgezogen, als die Kinder erschienen waren. Doch als der Abend immer länger wurde, konnte sie die frohen Stimmen der fremden Blagen im Haus nicht mehr ertragen. Sie packte den Besen und fuhr zwischen die Kinder. Erschrocken sprangen die Buben auf, wischten zur Tür hinaus und liefen so schnell die Beine sie trugen den Nagelberg hinauf.

Nachts auf dem Nagelberg

Der Kohlmüller stand an seiner Haustür und beobachtete, wie sie oberhalb der Mühle zwischen den dunklen Bäumen verschwanden. "Die armen Kinder!", dachte er bei sich, "Sie sind aus dem Tal und übers noch vereiste Ried hergekommen, und nun sind sie den Nagelberg hinaufgelaufen. Allein werden sie in der Nacht den Heimweg nicht finden!"

Der Kohlmüller beschloss, die Kinder zu suchen und ihnen den Weg übers Ried zu weisen. Also nahm er seinen Hund von der Kette und stieg den Berg hinauf. Im Wald konnte er die Kinder nicht finden. Also stieg er den Berg ganz hinauf, bis er den kahlen Bergrücken im Osten des Nagelbergs erreichte. Hier saßen die fünf Buben stumm im Kreis und hielten sich an den Händen, als ob sie sich gegenseitig trösten wollten.

Als der Müller im Mondlicht näher herantrat, standen die Kinder ehrerbietig auf. Der Älteste ergriff das Wort: "Lieber Vater, wir haben auf dich gewartet und wollen von dir auf lange Zeit Abschied nehmen! Nun können wir nicht mehr an Heiligabend und an Ostern zu dir kommen. Erst im Paradies wirst du uns wiedersehen! Der Mutter aber richte aus: Wenn sie fortfährt, mit Gott zu zürnen, so wird sie uns nimmer wiedersehen, in Ewigkeit."

Der Kohlmüller erkannte sie nun: Es waren seine Buben! Als er einen Schritt auf die Kinder zuging und das erste in die Arme schließen wollte, waren die fünf verschwunden. Allein mit seinem Hund stand der Kohlmüller auf der Lichtung am Nagelberg, die die Leute als Hexentanzplatz kennen, und beobachtete, wie fünf kleine Nebelwolken in den Himmel aufstiegen.

Ein Bund der Barmherzigkeit

Daheim berichtete er seiner Frau, was sich am Nagelberg zugetragen hatte. Getreu wiederholte er die Worte seines Sohnes. Und die Botschaft des Ältesten erreichte das Herz der Müllerin. Endlich konnte sie die Liebe zu ihren verstorbenen Kindern wieder zulassen. Sie erkannte, welch große Sünde sie durch ihren Zorn auf sich geladen hatte. Voll Reue fiel sie auf die Knie und betete um Gnade: Noch einmal möge der Herr für ihre Kinder die Himmelstür aufsperren und sie zu ihr lassen, zum Zeichen, dass ihr Sünd’ und Frevel vergeben seien. Aber die Buben kamen nicht wieder, obwohl die Müllerin seither an jedem Heiligabend eigenhändig die fünf Wecken auf den Tisch legte und die Milch dazustellte.

Mit jedem Weihnachts- und Osterfest, an dem der Tisch vergebens gedeckt war, verlor die Kohlmüllerin an Lebenskraft. Als sie an einem Himmelfahrtstag spürte, dass ihr Ende nahte, rief sie ihren Mann zu sich ans Krankenlager in der Stubennische und sprach: "Lieber Mann, wenn der Herr mir auch das Zeichen, um das ich gebeten habe, nicht gegeben hat, so hoffe ich doch auf seine Barmherzigkeit. Jetzt erst habe ich verstanden und weiß, was geschehen soll: Du musst dich aufmachen und nach fünf armen Buben suchen, die du aufnehmen sollst. Tue an ihnen, wie du an unseren eigenen Kindern getan hättest!" "Amen", sagte der Müller und drückte die Hand seiner Frau, um ihren letzten Bund zu besiegeln.

In diesem Augenblick erfüllte ein Leuchten die Stube, und die fünf Buben saßen am Tisch. Da eilte der Kohlmüller in die Speisekammer, um Wecken und Milch zu holen. Die Müllerin rief so laut sie mit ihrer schwachen Stimme noch rufen konnte: "Oh Kinderlein, wartet nur, der Vater kommt gleich mit den Wecken!" Sie befürchtete, die Kinder könnten enttäuscht sein über den leeren Tisch und wieder aufbrechen.

Aber der jüngste ihrer Söhne antwortete: "Ei, liebe Mutter, es hat heute Zeit. Wir warten, bis du mit uns gehst!" Die Müllerin schloss beruhigt die Augen und seufzte, als ob eine schwere Last von ihr abfiele. Als die Buben sich an den Wecken gestärkt und ihre Milch getrunken hatten, tat sie ihren letzten Atemzug, und im selben Augenblick verschwanden auch die Buben.

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