Entsetzen in Muhr über die Taten im Dritten Reich

12.11.2018, 17:43 Uhr
Entsetzen in Muhr über die Taten im Dritten Reich

© Fotos: Reinhard Krüger

Den historischen Hintergrund lieferten Texte aus der kurz vor der Vollendung stehenden Dokumentation von Altbürgermeister und Ehrenbürger Roland Fitzner, die von den Initiatoren, den Gemeinderäten Doris Schicker, Renate und Axel Peiffer, für den Abend unter dem Leitgedanken "Sie leben mit uns!" ausgesucht worden sind:

Sie rief immer und immer wieder nach ihrer Mutter. "Mamala, Mamala, wo bist du?" Allein steht die achtjährige jüdische Alice Fleischmann im Haus Nr. 84, heute Grabenweg 1, in Altenmuhr. Das Fenster ist offen, die Wohnung verwüstet. Verstört, ängstlich und tränenüberströmt steht das kleine Mädchen da und versteht die Welt nicht mehr. Bis vor wenigen Stunden war ihre kleine Welt noch heil, dann brach die braune rassistische Gewalt über den beschaulichen Ort herein und hatte nur ein Ziel: die noch hier lebenden Juden zu zerstören, zu vertreiben, zu verjagen, zu demütigen und zu deportieren.

Die Familie wurde mit brutaler Gewalt mitgenommen, das kleine Mädchen haben sie vergessen. Draußen vor dem Torhaus war die Sammelstelle. Schnell wurde festgestellt, dass die achtjährige Tochter noch fehlte, sie wurde schlicht übersehen. Wieder brach ein Trupp von SA-Männern auf und diesmal fanden sie die Kleine, packten sie rüde an und brachten sie zum Treffpunkt. Klara Fleischmann, die Schwester von Alice’ Mutter, lebte bis 1941 im schwäbischen Fellheim, bevor sie 1941 nach New York emigrierte.

Entsetzen in Muhr über die Taten im Dritten Reich

In ihrer eidesstaatlichen Erklärung schrieb sie: "Ich erhielt Anfang November 1938 die Nachricht, dass alle Juden Altenmuhr verlassen müssen. Am 10. November um 5 Uhr morgens kam ein Mann ins Zimmer und forderte uns alle auf, aus dem Haus zu gehen. Ich sah, wie dieser meine Schwester schlug. Der damalige Bürgermeister und der Lehrer standen vor dem Haus und lachten, als wir alle aus dem Haus getrieben wurden."

Solche und ähnlich schockierende Erlebnisse trug Ruhestandsarzt und Gemeinderat Axel Peiffer vor. Sie stammen aus der Feder von Roland Fitzner, dem es eine Herzensangelegenheit ist, über seinen Heimatort eine Dokumentation "Gegen das Vergessen" zu verfassen. Der bezeichnende Untertitel lautet: "Eine Dorfgemeinschaft verändert ihr Gesicht – Chronologie des Aufstiegs und Niedergangs des Nationalsozialismus in Alten- und Neuenmuhr".

Ihm standen Quellen der Bayerischen Staatsarchive München, Nürnberg und Lichtenau ebenso zur Verfügung wie die des Altmühl-Boten, der Fränkischen Landeszeitung und der gemeindlichen Unterlagen über diese Zeitepoche.

Im Frühjahr 1938 wurde es konkret: NSDAP-Leute drangen in jüdische Wohnungen ein, quälten ihr Bewohner so, dass man ihre Schreie bis auf die Straße hörte. Ortsansässige Hitlerjungen wurden vom Ortsgruppenführer aufgehetzt, Steine gegen die Fenster der Familie Thormann zu werfen. Gleichaltrige jüdische Kinder und Jugendliche wurden "verspottet, beschimpft oder gar verprügelt", so Roland Fitzner in seiner Dokumentation. Am 23. November berichtete die Altenmuhrer NSDAP-Ortsgruppe im Altmühl-Boten: "Keine drei Wochen später, nachdem Anfang November in einer Bürgerversammlung vom Bürgermeister lauthals verkündet worden war: ,In vier Wochen ist in Altenmuhr kein Jude mehr‘, hatte der letzte Jude den Ort verlassen."

"Altenmuhr judenfrei" wurde dem Frankenführer Julius Streicher gemeldet. Dieser antwortete in einem Telegramm: "Zur Befreiung vom Judentum herzlichen Glückwunsch". Der Altmühl-Bote vom 28. November titelte: "Altenmuhr feiert den Tag der Befreiung vom Judentum". Es erschreckt, wie die nationalsozialistische Diktatur in einem so kleinen Dorf wie Altenmuhr gefördert und propagiert worden ist. Kein damaliger Jude, so die erschütternde Dokumentation, konnte sein Leben auf natürliche Weise beenden. Sie wurden allesamt ermordet von NS-Schergen. Im Gegensatz zu ihren Peinigern, wie der Ortsgruppenleiter und der NS-Bürgermeister. Sie erlebten mit ihrer Amnestie nach dem Zusammenbruch ihr ganz persönliches "Happy End".

Trauer, Entsetzen und völliges Unverständnis herrschten darüber, dass es "am Ende Menschen aus unserer Gemeinde waren, die zu solch unmenschlichen Taten fähig gewesen sind", zitierte Axel Peiffer die Dokumentation von Roland Fitzner. Deshalb sei dieses Werk entstanden, damit "derartige politisch, rassistisch begründete Verbrechen an Menschen ein für allemal der Geschichte angehören müssen".

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