Friedhofsruhe statt Feierlaune

1.1.2021, 16:05 Uhr
Friedhofsruhe statt Feierlaune

© Foto: Jürgen Eisenbrand

Es ist Silvester, wenige Minuten vor Mitternacht, und die Szenerie erinnert unwillkürlich an Western-Klassiker der alten Schule: ein einsamer Cowboy, der durch menschenleere Straßen reitet, der Hufschlag seines Pferdes hallt unnatürlich laut, der Wind weht Dornenbüsche über die Straße und zerrt an Fensterläden und dem Werbeschild des Saloons.

Der Gunzenhäuser Marktplatz am letzten Tag des Jahres: Ich bin hierher gekommen, um zu sehen, ob und wie sich die Bewohner der Altmühlstadt an die Ausgangssperre und an das Böllerverbot halten. Mit meiner auf ein Stativ montierten Kamera gehe ich im Herzen der Altstadt auf und ab, meine Schritte hallen unnatürlich laut durch die ansonsten totenstille Nacht. Auf Höhe Rathausstraße zerrt der Wind an einer Markise, ein paar Meter weiter schiebt er eine Plastikverpackung über den Gehweg, das Geräusch ist irritierend deutlich zu vernehmen. Wie auch das dicker Wassertropfen, die auf Vordächer oder Sitzbänke fallen.

Aus den gekippten Fenstern eines Hauses nahe der Oettinger Straße ist fröhliches Lachen zu hören, Menschen unterhalten sich, Musik läuft im Hintergrund. Zwei Stockwerke darüber flimmert hinter den Scheiben das kalte, blaue Licht eines Fernsehapparats, und auf der Südseite des Marktplatzes, gegenüber vom Gasthaus "Altes Rathaus" hört man gedämpft, wie eine kleine Feiergesellschaft miteinander singt.

Vereinzelt ein paar Böller

Ansonsten: keine Menschenseele zu sehen, nichts zu hören, nur in der Ferne krachen ab und zu und ganz vereinzelt ein paar Böller; die "Frühstarter", die in jeder Silvesternacht eine Art Frühstart hinlegen.

Plötzlich, es ist 23.55 Uhr, zucke ich zusammen: Mit mächtigem Getöse legen die Glocken der evangelischen Stadtkirche los, erfüllen die ganze Altstadt mit ihrem Klang, wenig später erfüllt erstmals irgendwo in meiner Nähe ein kräftiger Böller seinen Zweck: Er erschreckt mich. Aber von dem Menschen, der ihn zündete, keine Spur. Geisterstadt eben.

Friedhofsruhe statt Feierlaune

© Foto: Tina Ellinger

Die Zeiger der Uhr am Geschäft von Juwelier Luger zeigen endlich Mitternacht an, jetzt sind doch tatsächlich irgendwo Jubelschreie zu vernehmen – vermutlich, weil dieses unsägliche Jahr 2020 endlich vorbei ist. Und weil jene Jubler sich auf ein neues freuen, von dem wir alle hoffen, dass es besser wird als das gerade zu Ende gegangene.

Die Frequenz der Böllerschläge erhöht sich jetzt, die Kirchenglocken von St. Marien haben auch wieder eingesetzt, und sie bekommen kurz nach Mitternacht noch Verstärkung aus Richtung Spitalkirche: Glockengeläut im Stereo-Sound in einer noch immer menschenleeren Innenstadt – ein durchaus besonderes Erlebnis.

Jetzt steigen irgendwo sogar ein paar Raketen in die Luft, ihre roten Leuchtkugeln spiegeln sich in Schaufenstern. Schnell suche ich einen Platz, von dem aus ich sie fotografieren kann – aber wegen des Verkaufsverbots ist der Vorrat der Feuerwerker offenbar so klein, dass ich gerade noch auf die Schnelle ein – nicht sehr beeindruckendes – Bild zustande bringe. Dann ist der Spuk auch schon vorüber.

Kein Feinstaub, keine Verletzungen

Während viele Böller- und Raketen-Freaks dies bedauern dürften, gibt es auch Menschen, die heilfroh sind, dass das Lichter- und Lärmspektakel heuer nahezu komplett ausfällt: Ärzte und Pfleger im Klinikum Altmühlfranken zum Beispiel, die sich mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht damit beschäftigen müssen, Böller-bedingte Hand- und Fingerverletzungen oder Brandwunden behandeln zu müssen. Oder Tier- und Naturfreunde, die sich schon im Vorfeld dazu geäußert haben.

"Die lauten Geräusche der Raketen und Böller schrecken Tiere auf, die dann bei ihrer Flucht wertvolle Energie für die kalten Winternächte unnötig verbrauchen", sagte etwa Miriam Hansbauer, Referatsleiterin Artenschutz beim Landesbund für Vogelschutz (LBV). Außerdem verschmutzten die Feuerwerksreste dieses Jahr keine Grünflächen und trügen nicht zu einer erhöhten Feinstaubbelastung bei.

Normalerweise werden laut Hansbauer an Silvester innerhalb von Minuten tausende Vögel vor Schreck gezwungen, von ihren Schlafplätzen aufzufliegen, um dem Lärm eines Feuerwerks zu entkommen. Dabei erreichten sie dann Höhen von über 1000 Metern, obwohl sie tagsüber normalerweise nur in bis zu 100 Metern Höhe fliegen.

"Dieses Silvester werden viele Vögel nicht von lautem Feuerwerk aufgeschreckt, geraten dadurch in Stress und brauchen anschließend lange, bis sie wieder zur Ruhe kommen", freute sich die Tierschützerin schon vor dem Jahreswechsel. "Diese nächtliche Flucht kostet sie ansonsten wertvolle Energie, die sie gerade in langen, kalten Winternächten zum Überleben brauchen." Das gleiche Problem bleibe diesmal auch allen anderen Wildtieren erspart, von denen gerade im Winter viele, wie zum Beispiel der Igel, ihren Stoffwechsel auf ein Minimum reduzierten.

Auch Gustav Girschele, dessen Mitarbeiter sich alljährlich um die Hinterlassenschaften feuchtfröhlicher öffentlicher Silvesterpartys und die Reste abgefeuerter Böller und Raketen kümmern müssen, sah dem Jahreswechsel diesmal entspannter entgegen als sonst. "Das Verkaufs- und Böllerverbot erleichtert uns die Arbeit ganz sicher", sagte der Leiter des Gunzenhäuser Bauhofs in einem Telefongespräch mit dem Altmühl-Boten. "Zum ersten Mal habe ich niemanden für einen Reinigungsdienst am Neujahrsmorgen eingeteilt", sagt der Mann, der auf 30 Jahre einschlägige Berufserfahrung zurückblicken kann.

In normalen Jahren muss Girschele am ersten Tag des neuen Jahres "zwei bis drei Trupps einsetzen", die die Straßen der Stadt vom gröbsten Dreck der Silvesternacht befreien. "Heuer brauchen wir das gar nicht", freut er sich für seine Kollegen. Nur am Sonntag werde er einen Mitarbeiter losschicken, der nach dem Rechten sehe, und ab Montag dann beginne wieder der ganz normaler "Straßenfeger-Alltag".

Mehr Polizisten im Einsatz

Im Gegensatz dazu hatte die Polizei ihre Kräfte in der Silvesternacht sogar aufgestockt, um im Ernstfall die Corona-Regeln auch durchsetzen zu können. "Das Präsidium stellt uns zudem weitere Kräfte für den Landkreis zur Verfügung", hatte Wolfgang Schmailzl, der stellvertretende Leiter der Gunzenhäuser Polizeiinspektion, schon vor dem Silvestertag angekündigt. Und auch versprochen, gegen eventuelle Verstöße mit Augenmaß vorzugehen: "Wir werden zunächst mit den Leuten reden – und nicht gleich ahnden."

Friedhofsruhe statt Feierlaune

© Foto: Isabel-Marie Köppel

Inzwischen ist es fast halb Eins, noch immer ist auf und rund um den Marktplatz keine Menschenseele zu sehen. Ich drehe zu Fuß eine kleine Schleife über die Promenade und packe dann meine Kamera, den Schreibblock und den Stift wieder ins Auto. Gerade als ich losfahre, entdecke ich eine Polizeistreife, die über den Marktplatz fährt und zum Hafnermarkt abbiegt.

Ich drehe den Spieß um

Ich hinterher – und jetzt drehe ich mal den Spieß um: Ich setze mich hinter den BMW und signalisiere seiner Besatzung per Lichthupe mehrmals, dass sie bitte anhalten möge. Direkt neben der Stadthalle habe ich Erfolg. Wie denn die Silvesternacht bisher gelaufen sei, will ich von den beiden jungen Polizisten wissen, nachdem ich zunächst ein "Gutes Neues" gewünscht und mich für die hartnäckige Betätigung der Lichthupe entschuldigt habe.

Sie grinsen, erwidern die Neujahrswünsche und erklären, dass bislang "nichts Aufregendes passiert" sei. Die Menschen hielten sich "weitestgehend" an die Ausgangsbeschränkungen.

Über den größten Aufreger des Abends lesen wir am Neujahrstag im schriftlichen Polizeibericht: In Büchelberg stand gegen 21 Uhr ein Pkw – vermutlich wegen eines technischen Defekts – in Flammen. Die drei angerückten Feuerwehren konnten ihn zwar löschen, dennoch entstand ein wirtschaftlicher Totalschaden in Höhe von etwa 4000 Euro.

Das Feuer und der Einsatz der Floriansjünger lockte freilich mehrere Passanten an, die damit laut dem Bericht gegen die Ausgangsbeschränkungen verstießen – und "sich teilweise sehr uneinsichtig zeigten". Sie erwartet nun ein Bußgeld – ansonsten könne die "Polizei Gunzenhausen auf eine friedliche Silvesternacht zurückblicken".

Klar, was soll in einer menschenleeren Geisterstadt schon passieren . . .

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