"Geierwally" begeistert in Feuchtwangen

8.6.2019, 12:11 Uhr

© H. Forsten

Apropos kalt: Der gleichförmigen Wetterschutzkleidung, unter der die Individuen verschwimmen, kann Intendant und Regisseur Johannes Kaetzler durchaus etwas Begeisterndes abgewinnen: "Sie sind der perfekte Gletscher!", ruft er dem Publikum zu. Diese Eismasse spielt in dem Schauspiel nach dem Roman von Wilhelmine von Hillern (Johannes Kaetzler hat eine eigene Textfassung für die Kreuzgangspiele geschrieben) eine nicht unerhebliche Rolle. Genau an diesen unwirtlichen Ort verbannt der kaltherzige Höchstbauer Strominger (Andreas Wobig) seine einzige Tochter Walburga (Judith Peres), weil sie sich weigert, Vinzenz Gellner (Johann Anzenberger) zu heiraten.

Ein echter Wildfang

Seit sie als Kind das Nest eines Lämmergeiers ausgeräumt hat, was außer ihr niemand wagte, und ein Geierjunges aufzog, wird sie von allen nur "Geierwally" genannt. Sie gilt als unzähmbarer Wildfang, der sich nichts vorschreiben lässt. Bis sie zur Vernunft gekommen ist, soll sie nun in der Einöde das Vieh hüten, was der eigenwilligen jungen Frau allemal lieber ist, als die Ehe mit einem Mann einzugehen, den sie nicht liebt: "I mog di net!", macht sie Vinzenz mehr als deutlich. Ihr Herz hat sie nämlich längst an den "Bären-Joseph" (Franz Josef Strohmeier) verloren, der aber mit ihrem Vater im Clinch liegt und sich nicht weiter für sie interessiert.

Der alte Strominger und Vinzenz lassen jedoch nicht locker, und als Wally im Winter zurück auf den Hof muss, kommt es zu einem heftigen Streit, als sie den altgedienten Knecht Klettenmaier (Peter Heeg) beschützt. Wally wird als Brandstifterin und versuchte Mörderin gejagt, findet aber Unterschlupf bei den Klotz-Brüdern (Ulrich Westermann, Alexander Ourth und Pascal Pawlowski), die das gute Herz hinter dem ungestümen Wesen erkennen.

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Doch es soll noch zwei weitere Sommer auf dem Hochjoch dauern, bis Wally nach dem Tod ihres Vaters nach Hause kann. Sie ist Alleinerbin und damit eine reiche Frau, aber "Glück muss man sich verdienen", wie ihr Klettenmaier angesichts ihres Stolzes und ihres Hochmuts ins Gewissen redet. Hart geworden durch die Verbannung und zerrissen von der unerfüllten Liebe, hat sie für niemanden ein gutes Wort übrig.

Getrieben von Eifersucht und Wut beleidigt sie Afra (Linda Prinz), in der Annahme, sie sei Josephs Geliebte. Der rächt sich und stellt Wally vor allen anderen bloß – die Ereignisse auf der Bühne spitzen sich dramatisch zu, und wer die Geschichte bisher nicht kannte, kommt um eine bange Frage nicht umhin: Kann das ein glückliches Ende nehmen?

Fast 150 Jahre alt

Mehrfach wurde die "Geierwally" bereits verfilmt, erstmals 1921, und auf zahlreichen Bühnen gespielt. Die Romanvorlage von Wilhelmine von Hillern selbst, angelehnt an das Leben der Tirolerin Anna Stainer-Knittel, stammt aus dem Jahr 1873. Einer Zeit, in der Frauen von Selbstbestimmung nur träumen konnten. "Wir schauen in die Vergangenheit und lassen sie lebendig werden", hatte Johannes Kaetzler eingangs erklärt. Denn: "Nur wer die Vergangenheit kennt, kann die Zukunft sinnvoll gestalten!"

Seine "Geierwally" durchlebt sämtliche Höhen und Tiefen: von tiefster Einsamkeit über helle Freude und bösem Zorn bis zur absoluten Scham fahren ihre Gefühle Achterbahn. Dafür hat er mit Judith Peres die perfekte Besetzung gewählt: Stets authentisch lässt sie ihre Figur agieren, ist bewundernswert wandelbar und bleibt sich auf ihre Weise immer treu. Und dem Zuschauer auch in den extremsten Situationen nah, so nachvollziehbar sind ihre zutiefst emotionalen Handlungen.

Unweigerlich schleichen sich aktuelle Fragen ein: Wie gleichberechtigt sind Mann und Frau heute? Wie viel echte Wahlfreiheit haben wir? Damit schaffen Kaetzler, Dramaturgin Dr. Maria Wüstenhagen und das gesamte Ensemble, das durch die Bank begeisterte, spielend den Bogen vom Damals zum Jetzt. Sowohl Bühnenbild (Werner Brenner) als auch Kostüme (Marion Schultheiss) fügen sich fließend in die Kulisse des Kreuzgangs ein.

Wenn dann noch Alphörner (Musik: Michael Reffi) erklingen, Kuhglocken ertönen und Nebel aufsteigen, ist man hoch droben in den Bergen, der Blick schweift runter zum Tal, auf das Geschehen auf der Bühne, das den ganzen Abend aufmerksam von Wallys Geier Hansel (Mario Schnitzler) beobachtet wird.

Und ganz schnell muss man sich aus der längst vergessenen Regenhaut schälen, um in den tosenden Applaus einzustimmen.

 

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