Gunzenhausen: Schreie, die nicht verhallen

10.11.2019, 18:00 Uhr
Gunzenhausen: Schreie, die nicht verhallen

© Tina Ellinger

Der Startpunkt des Rundgangs ist mit Bedacht gewählt: "Wir stehen auf historischem Boden", erklärt Elke Hartung. Dort, wo heute der Brunnen seinen Platz hat, stand einst die jüdische Schule, in der Max Levite die Kinder unterrichtete. In einem Brief an eine Freundin erinnert sich seine Tochter Suse nach der Flucht aus Gunzenhausen an die Männer, die am 9. November 1938 das Haus zerstörten und den Vater mit dem Tod bedrohten. Eine andere Zeitzeugin berichtete der Stadtführerin vor nicht allzu langer Zeit von den Schreien in dieser Nacht, die sie zeitlebens nicht vergessen konnte.

Es sind genau diese persönlichen Geschichten, die Elke Hartung immer wieder unter die Haut gehen, und die sich hinter jedem Haus im einstigen jüdischen Viertel verbergen. Etwa die von Gustav Theilheimer, der mit seiner Familie gleich gegenüber der Synagoge (1981 wurde das historische Gebäude abgerissen und an seiner Stelle ein Parkhaus am Hafnermarkt errichtet) wohnte. 1933 war er auf dem Weg ins jüdische Gotteshaus, als er von einer Gruppe junger Leute angegriffen und geschlagen worden ist, und daraufhin an einem Schlaganfall verstarb.

Wir dürfen nicht vergessen!

Oder die von Ludwig Faulstich, der eine Beziehung mit der Jüdin Elsa Seller hatte. Sie wurde 1937 verhaftet und soll sich im Gefängnis erhängt haben. Besonders tragisch an der Geschichte ist, dass Elsas Brüder allesamt im Ersten Weltkrieg gefallen sind – im Kampf für das deutsche Vaterland. 1941 erhängte sich Ludwig Faulstich in seinem Haus in der Brunnenstraße. "Man muss über das, was da passiert ist, reden. Wir können nichts dafür, aber es ist unsere Pflicht, es nicht zu vergessen!", lautet der eindringliche Appell von Elke Hartung überzeugt.

Und aus ihren eigenen Erfahrungen wisse sie, dass die Nachkommen der Gunzenhäuser Juden, die immer wieder in der Stadt auf der Suche nach ihren Wurzeln sind, "uns keinesfalls etwas ankreiden, sondern dankbar dafür sind, dass wir das Geschehene nicht vergessen".

Nicht weit vom Faulstich-Haus entfernt erinnert eine Büste an Andreas Osiander, der in der Schmiedgasse (heute Rathausstraße) geboren worden ist. Vielleicht ist es diese Nähe zum jüdischen Viertel, die den Reformator dazu veranlasste – anders als Martin Luther – stets das Gespräch mit den Juden zu suchen und sich für ihre Rechte einzusetzen. In die Rathausstraße gelangt man heute wie vor Jahrhunderten durch den Blasturm, der in all der Zeit schon so manches erdulden musste, wie etwa den Durchmarsch von NSDAP-Gauleiter Julius Streicher, dem in Gunzenhausen "regelrecht gehuldigt" worden ist.

Da er mit dem Zug angereist kam, führte ihn sein Weg durch die Bahnhofstraße, auf die Elke Hartung den Blick ihrer Zuhörer jetzt lenkt und sie auffordert, sich in den März 1934 zurückzuversetzen: "Stellen Sie sich diesen Mobb vor, was da los war!" 1500 Menschen sollen es gewesen sein, die am sogenannten "Blutigen Palmsonntag" laut grölend durch die Straßen zogen und Angst und Schrecken unter der jüdischen Bevölkerung verbreiteten. Zwei Juden kamen bei diesem ersten Pogrom gewaltsam ums Leben.

Versklavt und ermordet

Das Drama der Judenverfolgung hat seinen Ursprung aber keinesfalls im 20. Jahrhundert, wie die Stadtführerin im Markgrafensaal im Haus des Gastes anhand einer Powerpoint-Präsentation deutlich machte. Schon 70 nach Christus wird der Tempel in Jerusalem gestürmt, die Juden werden ermordet, versklavt, unterworfen. So zieht es sich durch die Jahrhunderte, egal, ob das Brunnenwasser verdorben oder die Pest ausgebrochen war – die Juden waren schuld. Sie hatten aber auch besondere Fähigkeiten und Kenntnisse, die bei den Landesherren und Stadtfürsten durchaus gefragt waren. Dafür, dass sie in den Städten geduldelt waren, mussten sie Schutzzölle bezahlen, auch an die Markgrafen von Brandenburg-Ansbach.

Gunzenhausen: Schreie, die nicht verhallen

© Stadtarchiv Gunzenhausen

Doch es gab auch ein gutes Miteinander unter Juden und Christen in Gunzenhausen, ist die passionierte Geschichtskennerin sicher. Ein Hinweis darauf ist beispielsweise der Gebärstuhl, der 1662 in der Stadt angeschafft worden ist und den die jüdische Gemeinde mitfanziert hat. Zudem betreute die Hebamme sowohl die christlichen als auch die jüdischen Mütter, wie aus den historischen Unterlagen hervorgeht. Auch die Lage der Synagoge, die 1883 eingeweiht wurde, spricht dafür, dass die Angehörigen beider Religionen auf Augenhöhe kommunizierten, lag sie doch in Blickrichtung der (jetzt) evangelischen Stadtrichtung.

Zum Christentum konvertiert

Die jüdische Gemeinde in Gunzenhausen wuchs im 18. Jahrhundert unter Carl Wilhelm Friedrich, dem Wilden Markgraf, zur drittgrößten im Markgrafentum an. In dieser Zeit konvertieren, vermutlich auf Druck "von oben", neun Juden zum christlichen Glauben. Die Taufen fanden in der evangelischen Stadtkirche statt, der letzten Station dieses aufwühlenden Stadtrundgangs. Hier schließt sich in gewisser Weise auch ein Kreis, "basiert unser Glaube doch auf dem jüdischen Glauben", wie die engagierte Stadtführerin betonte.

Sie verweist auf den Ritter Paul, dessen steinernes Abbild seit 1502 die einstige Außenmauer des Gotteshauses ziert. Das dazugehörende Jesuskreuz ist mit einer hebräischen Inschrift versehen, und das an der damals noch katholischen Kirche, die bis heute den Namen St. Marien trägt. Auch hier gibt es eine Verbindung zu Ritter Paul, in dessen Schwertknauf die Jungfrau Maria und das Jesuskind abgebildet sind. Die Stadtkirche ist demnach ein Ort, der Glauben vereint, verdeutlicht Elke Hartung und verweist in disem Zusammenhang auf den Toleranzgedanken in "Nathan der Weise".

Doch sie hatte nicht nur Gotthold Ephraim Lessing im Gepäck, sondern auch den jüdischen Schriftsteller Jakob Wassermann, der Verwandtschaft in Gunzenhausen hatte und mit einem Gunzenhäuser Justizrat befreundet war. 1921 erschien ihr gemeinsames Buch "Mein Weg als Deutscher und Jude". Wassermann wirft darin die Frage auf, wer sich wohl anmaßen könne, jüdisches und christliches Blut zu unterscheiden. Eine Frage, auf die es nur eine Antwort geben kann, besonders in Erinnerung an dieses unsägliche Datum in der deutschen Geschichte.

 

 

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