Gunzenhausen: Wenn ein Behinderter gewalttätig wird

25.1.2020, 17:15 Uhr
Gunzenhausen: Wenn ein Behinderter gewalttätig wird

© Wolfgang Dressler

Vor den Schranken dieses Gerichts stand an diesem Tag Ludwig (Name geändert), ein 22-jähriger Behinderter, der in einer Wohngruppe in der Region lebt. Ludwig leidet unter einer leichten Intelligenzminderung, zeigt in seinem Verhalten deutliche Auffälligkeiten und ist durch eine paranoide Schizophrenie zusätzlich gehandicapt. Und er weiß nicht wohin mit seiner Kraft

Immer wieder ging Ludwig mit unvermittelten Faustschlägen auf schwächere Mitbewohner oder Betreuerinnen los. Eine Wohngruppe ist aber kein rechtsfreier Raum, deshalb musste sich Ludwig nun vor dem Landgericht verantworten. Und es war eine lange Liste an Vorfällen, die Staatsanwalt Sebastian Dicker aus den vergangenen zwei Jahren vortrug. Mal traf er mit seinen Schlägen den Bauchraum, dann schleuderte er jemanden mit voller Wucht gegen die Wand. Mit geballter Kraft riss der junge Mann die metallene Stange eines Tischkickers mit bloßen Händen heraus, verbog sie und verwendete sie als Wurfgeschoss gegen einen Betreuer.

Diese körperlichen Attacken wurden von wüsten Beleidigungen "eindeutig unter der Gürtellinie", so eine Zeugin, begleitet. Für den Staatsanwalt gab es keinen Zweifel: Ludwig "ist für die Allgemeinheit gefährlich".

Problem bestand schon lange

Ein schwieriger Fall für den Vizepräsidenten des Landgerichts und Vorsitzenden Richter Claus Körner und seine beiden Kollegen Stephan Winter und Christine Höntsch sowie die Schöffen. Dicke Akten auf dem Richtertisch zeugten von ausführlicher Ermittlungsarbeit. Es muss schon viel zusammenkommen, wenn pädagogisch wie pflegerisch gut qualifizierte Fachkräfte ans Ende ihres Lateins kommen und sich an die Polizei wenden. Immer wieder hat es im Wohnheim, wurde bei der Verhandlung deutlich, Randale gegeben, immer wieder waren Schwächere die Opfer und immer wieder schrie Ludwig schreckliche Drohungen heraus: "Ich bring euch alle um!"

Die Fürsorgepflicht gegenüber Mitbewohnern, die beispielsweise im Rollstuhl sitzen oder schon deutlich älter sind, zwangen die Verantwortlichen zum Handeln. So wie an jenem Montagmorgen im März 2018. Betreuungspflegerin Nicole hatte Frühdienst. Das heißt, hilfebedürftige Bewohner werden beim Waschen und Ankleiden unterstützt, das Frühstück gerichtet und sie muss dafür sorgen, dass die Arbeitsfähigen pünktlich in die Werkstatt kommen.

An diesem Tag kam Ludwig ins Spiel und forderte von Nicole eine Zigarette. Die 37-jährige Fachkraft hatte dafür keine Zeit und sagte dies auch. Daraufhin "tickte" Ludwig von einer Sekunde auf die andere aus, schlug um sich, stieß eine Bewohnerin mit voller Wucht gegen die Wand, einem Mann im Rollstuhl verpasste er einen weiteren Fausthieb in die Magengrube, berichtet die Fachkraft nun vor Gericht. Ludwig habe geschrien und die Pflegekraft auf übelste beleidigt. Nicole flüchtete ins Büro, um Hilfe zu holen, Ludwig hinterher. Er warf einen Drehstuhl nach ihr, traf sie leicht an der Hüfte. Dann raste er in den Aufenthaltsraum, riss die Kickerstange aus dem Spielgerät, und schleuderte sie gegen die hinzukommende Heilerziehungspflegerin Rosina.

"Wenn Ludwig in Fahrt ist, schnappt er sich jeden, der sich ihm in den Weg stellt", sagte die Zeugin aus. Die Bewohner seien völlig verstört und hilflos gewesen, einige hätten geweint. Die Verantwortlichen schlugen Alarm. Die Polizei wurde gerufen, die Chefs verständigt, Bewohner beruhigt. Kein leichter Tag für alle Beteiligten. Ludwig wurde, wie in diesen Fällen üblich, ins Bezirkskrankenhaus nach Ansbach verfrachtet und Anzeige erstattet.

Nicht angeklagt, sondern beschuldigt

Vor Gericht stand der 22-Jährige nun nicht als Angeklagter, sondern als Beschuldigter. Der Staatsanwalt trug auch keine Anklageschrift vor, sondern eine Antragsschrift. Ein kleiner, aber feiner Unterschied. Nicht Gefängnis, sondern Sicherungsverfahren samt Einweisung in die forensische Psychiatrie stand als mögliche Konsequenz im Raum.

Richter Claus Körner machte sich die Sache nicht leicht. Er leitete die Verhandlung ruhig und mit großer Empathie, sorgte dafür, dass alle Beteiligten zu Wort kamen, und vor allem auch Ludwig selbst – beziehungsweise seine Mutter, die auch seine Betreuerin ist. Denn Ludwig spricht selten verständlich, er nuschelt vor sich hin und kann sich an nichts mehr erinnern.

Schon als Kleinkind habe sich Ludwig auffällig benommen, sei sehr unruhig gewesen und habe nichts gelernt, erzählte sie offen. "Er hat sich immer schwer getan." Aufenthalte in der Kinder- und Jugendpsychiatrie häuften sich, mit 18 Jahren fingen Wahnvorstellungen an, berichtet die Mutter weiter. Zur Diagnose ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) gesellte sich eine paranoide Schizophrenie. "Er ist furchtbar anstrengend", gestand die knapp 60-jährige Frau.

Durch die regelmäßige Einnahme von Psychopharmaka wurde Ludwig deutlicher ruhiger, verweigerte er die Einnahme, geriet sein Gemütszustand schnell außer Kontrolle. Ludwig wurde von Organisation zu Organisation weitergereicht, immer wieder landete er im Bezirkskrankenhaus. Jetzt schien er die richtige Unterbringung gefunden zu haben, davon zeigte sich die Mutter überzeugt. Auch Heilerziehungspfleger Dominik scheint das so zu sehen. Zwar sei Ludwig eine "tickende Zeitbombe", aber: "Wir sind für solche Fälle ausgebildet und vorbereitet", betont er im Pausengespräch. Eine entscheidende Bedeutung kam dem fachmedizinischen Gutachter zu. Psychotherapeut Dr. Jürgen Knoll vom Gerichtsärztlichen Dienst Nürnberg bescheinigte dem 22-Jährigen "eine erhebliche Persönlichkeits- und Verhaltensstörung". Er sei intelligenzgemindert und habe ein impulsives, enthemmtes und nicht mehr kontrollierbares Verhalten. Dazu komme eine Störung des Affektes, eine Sprachverarmung und kognitive Störungen. Letztlich zeige der Beschuldigte "Basissymptome einer Psychose". Er sei somit dauerhaft auf eine "umfassende Hilfe und Umsorgung angewiesen".

Aus medizinischer Sicht stufte der Facharzt Ludwig als "eine Gefährdung der Allgemeinheit" ein und empfahl die Unterbringung in einem geschlossenen Rahmen in einer homogenen Umgebung. Zwingend wäre seiner Meinung nach eine entsprechende Medikation von geeigneten Psychopharmaka, "denn wenn man gar nichts ändert, hätte ich große Bedenken".

Staatsanwalt Sebastian Dicker nannte nochmals die "rechtswidrigen Taten" und hob die "sehr reflektierte Darstellung" der Mutter hervor. Er plädierte für eine fünfjährige Bewährungsstrafe in der forensischen Psychiatrie, schlug einen Bewährungshelfer sowie eine regelmäßige nervenärztliche Betreuung in einer Institutsambulanz vor. Der Verteidiger schloss sich dem "voll inhaltlich" an. Dem folgte auch das Gericht. Ludwig kann also weiterhin in seiner Einrichtung bleiben. "Es ist zu hoffen und zu wünschen, dass er damit keine Taten mehr begeht", meinte abschließend der Richter.