"Polizist zu sein, war mein Kindheitstraum"

14.11.2021, 07:25 Uhr

© Foto: Lidia Piechulek

Sie erlebten in 43 Jahren Polizeidienst in verschiedenen Polizeidienststellen eine Vielzahl schwieriger, kurioser und trauriger Einsätze. Was zeichnet für Sie das Einsatzgebiet Treuchtlingen aus?

Dieter Meyer: 2010 sagte mein damaliger Präsident bei der Amtseinführung im Forsthaus, dass das Amt des Leiters einer Land-Polizeiinspektion eine der schönsten Aufgaben ist, die der Freistaat Bayern im Bereich der Polizei zu vergeben hat. Im Nachgang muss ich ihm Recht geben. Es ist eine sehr schöne Tätigkeit.

Warum?

Dieter Meyer: Weil man hier als Inspektionsleiter für alles zuständig ist. Man ist ganz nah am Einsatzgeschehen, hat einen guten Draht zu den Bürgermeistern, Verwaltungen, Schulen, Pfarrern und Bürgern. In Nürnberg, einer Großrauminspektion, hat der Inspektionsleiter mit dem Tagesgeschehen relativ wenig zu tun. Ich erledige hier in Treuchtlingen mein Tagesgeschäft als Inspektionsleiter, wenn‘s aber drauf ankommt, fahre ich mit Streife, besetze die Wache oder nehme Anzeigen auf. Ich bekomme also sehr viel mit, was sich im Dienstbereich abspielt.

Dieter Meyer leitete die Polizeiinspektion Treuchtlingen seit 2010.

Dieter Meyer leitete die Polizeiinspektion Treuchtlingen seit 2010. © Benjamin Huck

Sie bekommen also sehr viel mit. Wie ist das so, wenn man jemanden persönlich kennt, und ihm dann plötzlich beruflich gegenüber steht, weil er eine Straftat begangen hat?

Dieter Meyer: Wir erleben Menschen unterschiedlichster sozialer Herkunft in Situationen, in denen gerade etwas aus dem Ruder gelaufen ist – egal, ob das der Firmenboss ist oder der Mensch, der im Kurpark übernachtet, weil er keine Wohnung mehr hat. Natürlich gibt es da manchmal jemanden, den man gut kennt. Aber das gehört dazu, ich habe mir da nie größere Gedanken gemacht. Ganz wichtig ist, dass man sein Gegenüber anständig behandelt, egal welche soziale Stellung die Person hat oder ob man sie kennt.


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Wieso sind Sie nie nach Treuchtlingen gezogen?

Dieter Meyer: Gunzenhausen gefällt mir und meiner Familie einfach sehr gut. Vielleicht spielt im Hinterkopf auch eine Rolle, dass ich dann weniger solcher Situationen habe, über die wir gerade gesprochen haben.

Es gibt ja auch belastende Situationen, in die man als Polizist gerät. Wie gehen Sie damit um?

Dieter Meyer: Da ist die Familie sehr wichtig. Denn egal was für belastende Einsätze zu bewältigen waren, ich brauche zum Verarbeiten oftmals jemanden zum Reden. Meine Frau hat mich da ganz viel unterstützen müssen, ich denke, das ist bei vielen Polizistenfrauen so.

Haben Sie ein Beispiel?

Dieter Meyer: Was mich sehr belastet hat, ist der Fall des Familienvaters, der seine drei Kinder aus dem Fenster geworfen hat . Ich war damals sehr schnell dort und hörte die kleinen Kinder schreien. Sie waren zwischen drei Monaten und vier Jahre alt und hatten so etwas unvorstellbar Grausames und Tragisches mitmachen müssen. Und natürlich ist jeder tödliche Verkehrsunfall, überhaupt jeder Tote, sehr belastend. So auch die Überbringung einer Todesnachricht an die Hinterbliebenen. Es gehört aber als Dienststellenleiter für mich dazu, diese Verantwortung zu tragen.


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Wie lange überbringen sie schon Todesnachrichten?

Dieter Meyer: Seit ich 1990 erstmals Dienstgruppenleiter in Treuchtlingen wurde.

Welche Situationen belasten Sie noch?

Dieter Meyer: Wir müssen immer wieder Familien zur Abschiebung abholen. Das passiert – den Flugzeiten geschuldet – meist in den frühen Morgenstunden. Wir holen also Menschen ab, darunter auch Kinder und Jugendliche, die sich teilweise schon sehr gut integriert haben. Dabei spielen sich oft herzzerreißende Szenen ab, was auch die beteiligten Kolleginnen und Kollegen, die selbst Familien haben, stark belastet, so wie auch mich, weil ich bei fast allen Abschiebungen selbst mit vor Ort war.

Sie sagten, dass Ihre Frau bei der Bewältigung solcher Situationen eine wichtige Rolle gespielt hat. Gibt es auch eine gute psychologische Betreuung?

Dieter Meyer: Ja, verbessert hat sich diese aber meiner Meinung nach erst in den letzten zwölf bis 15 Jahren. Früher war es noch eher so, dass man gesagt hat, stark belastende Einsätze gehören zum Beruf und müssen verkraftet werden. Das ist zumindest meine persönliche Erfahrung.

Wie muss ein Mensch sein, um ein guter Polizeibeamter sein zu können?

Dieter Meyer: Man muss Menschen mögen und empathisch sein. Man hat häufig mit Menschen zu tun, die aus unserer Sicht sehr abwegige oder unerklärliche Dinge tun. Um diese Verhaltensweisen, zum Beispiel den betrunkenen Autofahrer, der erwischt wurde und für den gerade vielleicht Familie und Beruf durch den drohenden Führerscheinentzug gefährdet sind, zu verstehen und sich in diese hineinversetzen zu können, braucht man Einfühlungsvermögen. Es sind immer wieder neue Situationen und Herausforderungen, die bewältigt werden müssen.

Was gehört noch dazu?

Dieter Meyer: Das Bewusstsein, dass man zu Zeiten Dienst hat, an denen andere mit ihren Familien zuhause sitzen. Es braucht außerdem Menschen, die besonnen und ruhig handeln. Man muss teamfähig, kommunikativ und körperlich fit sein.


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Inwiefern war es denn anders, vor 43 Jahren Polizist zu sein?

Dieter Meyer: Innerdienstlich wurde mehr durch Anordnung geführt, heute werden Ziele und Aufgaben mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern besprochen. Auch war der Stand eines Polizisten noch ein anderer. Er wurde mehr geachtet und respektiert. Nun sind die Menschen aufgeklärter, was gut ist. Der Polizei "auf die Finger schauen" ist wichtig und richtig, sollte aber gerecht und fair sein. Missstände bei der Polizei müssen aufgedeckt werden. Aber nicht jede anonym in sozialen Netzwerken verbreitete angebliche Verfehlung von Einsatzkräften ist zutreffend und auch wirklich so passiert.

Was hat sich noch verändert?

Dieter Meyer: Es gibt eine Digitalisierung in allen Bereichen. Auch bindet die Internetkriminalität mittlerweile sehr viele Kapazitäten der polizeilichen Einsatzkräfte und braucht ein hohes Fachwissen.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft der Treuchtlinger Polizeiinspektion?

Dieter Meyer: Dass immer genügend Personal kommt, um einen vernünftigen Dienst gestalten zu können, damit die immer mehr und vielfältiger werdenden Aufgaben zum Schutz der Bürgerinnen und Bürger von Treuchtlingen und Umgebung erfüllt werden können. Oberste Priorität hat für mich schon immer, dass alle Kolleginnen und Kollegen gesund aus ihren Einsätzen zurückkehren. Jede einzelne Polizistin oder Polizist, der oder die von aggressiven Tätern angegriffen, attackiert oder verletzt wird, hat auch eine Familie, die auf sie oder ihn wartet.

Welche gesellschaftlichen Entwicklungen bereiten Ihnen Sorge?

Dieter Meyer: Mir bereitet Corona und die daraus resultierende Spaltung der Gesellschaft Sorgen. Auf der einen Seite haben wir Impf-Befürworter und auf der anderen vehemente Gegner. Es gibt da kein Grau mehr, sondern nur noch Schwarz und Weiß. Wir haben hier in Treuchtlingen auch Impf-Gegner, die aggressiv sind. Wenn ich dann höre, dass Menschen erschossen werden, weil sie eine Maskentragepflicht für Kunden ansprechen, dann macht mir das als Vertreter der Polizei aber auch ganz persönlich Angst. Wir sind verpflichtet, durchzusetzen, was unser Dienstherr beschließt, also etwa die 2G-Regeln, die mehr kontrolliert werden sollen. Das heißt, dass wir auch Aggressionen ausgesetzt sind.

Wie ist es für Sie, diese Corona-Regeln zu kontrollieren?

Dieter Meyer: Das kommt auf die Situation an. Nehmen wir etwa einen Mann, der im vergangenen Jahr zu Zeiten der Ausgangssperre Zigaretten geholt hat und vielleicht noch eine an der frischen Luft geraucht hat, weil er in einer Ein-Zimmer-Wohnung ohne Balkon wohnt. Da sind wir wieder bei der Empathie: Das Verhalten ist rechtlich nicht in Ordnung, und vielleicht erwischt ihn eine Streife. Der Mann wird dann angezeigt und zahlt 250 Euro Geldbuße. Da fehlt für mich das nötige Fingerspitzengefühl. Wenn aber Partys mit einer Vielzahl von Gästen gefeiert werden, die sich keinerlei Gedanken um Corona-Schutzmaßnahmen machen, ist es sehr gut eine rechtliche Einschreitmöglichkeit zu haben.

Gibt es konkrete Ereignisse aus Treuchtlingen, die Ihnen für immer im Gedächtnis bleiben werden?

Dieter Meyer: In der Altmühltherme haben wir 1991 einen Einbrecher auf frischer Tat ertappt, der durch ein Fenster eingestiegen ist. Wir beobachteten ihn, wie er sich an einem Zigarettenautomaten zu schaffen machte und stellten ihn, als er durch das Fenster herauskam. Das war wie im Lehrbuch. So etwas passiert einem Polizisten auch nicht alle Tage, meist kommt man zu spät an den Tatort.

Das ist bestimmt frustrierend.

Dieter Meyer: Noch viel frustrierender ist es, wenn man als Polizist gut arbeitet, eine Anzeige vorlegt, und der offensichtliche Täter dann einen findigen Juristen hat, der es schafft, dass das Verfahren trotzdem eingestellt wird.

Wann haben Sie persönlich entschieden, dass Sie Polizist werden wollen?

Dieter Meyer: Das war schon sehr früh. Wie jedes Kind habe ich die Polizeiautos gesehen und mir bis zum Ende der Schulzeit, mit etwa 17 Jahren, gedacht: Das würde mir gefallen. Und ich bin dabei geblieben. Es war also mein Kindheitstraum. Leider wollte aber keine von meinen drei Töchtern auch Polizistin werden.

Darüber sind sie also traurig?

Dieter Meyer: Nein, wirklich traurig bin ich nicht, da meine Töchter in ihren gewählten Berufen absolut glücklich und zufrieden sind. (lacht) Anfang des Jahres war es für mich schwer und ein bisschen unvorstellbar, das Ende meines Berufslebens näher rücken zu sehen. Aber inzwischen ist das Gefühl gewichen, und ich freue mich auf den Ruhestand. Ich möchte mich jetzt einfach mal hinsetzen und sagen: Ich muss dieses und jenes jetzt nicht machen.

Also haben Sie sich quasi vorgenommen, sich nichts vorzunehmen.

Dieter Meyer: Ja, genau. Ich möchte das einfach mal auf mich zukommen lassen – und einfach mal für nichts und niemanden Verantwortung übernehmen.

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