Vorleser gastierten im Gunzenhäuser Klinikum

1.5.2019, 07:05 Uhr
Vorleser gastierten im Gunzenhäuser Klinikum

© Marianne Natalis

Anders als bisher konnten die Besucher nicht eigenständig zu den einzelnen Stationen ausschwärmen. Denn mit Rücksicht auf den Klinikalltag wurden die Gäste in Gruppen zu den einzelnen Leseorten geführt. Dort erwarteten sie, nun wieder in gewohnter Manier, Vorleser mit unterhaltsamen Geschichten, die in irgendeiner Form fast alle etwas mit Medizin zu tun hatten.

Kuriose Fälle

Weil der Grund für einen Aufenthalt in einem Krankenhaus in der Regel die Diagnose ist, begrüßte Andrea Kramp, kaufmännische Direktorin des Klinikums, die Besucher in der Cafeteria der Klinik mit kuriosen Fällen, bei denen die behandelnden Ärzte ganz schön zu knabbern hatten, bis der Auslöser der Krankheit feststand. Gesammelt und als Kurzgeschichten in Buchform gepackt hat sie die Medizinjournalistin Dr. Anika Geisler.

Im Aufwachraum hängen die Patienten normalerweise an den Überwachungsmonitoren, diesmal waren es die Lippen von Jörg Dommel. Der Grafiker aus Wassertrüdingen hatte Kurzgeschichten von Ferdinand von Schirach und Stefan Schwarz dabei. Letzterer erzählt etwa mit viel schwarzem Humor die Suche nach dem Gebiss eines Bewohners eines Pflegeheims.

Zeugen einer kniffligen OP wurden die Zuhörer im Überwachungsraum im zweiten Stock. Das Notarztteam der Sauerbruch-Klinik in Frankfurt musste eine Eisenstange entfernen, die sich durch den Körper eines Bauarbeiters gebohrt hatte. Für schlechte Stimmung am OP-Tisch sorgen dabei die beiden Assistenzärzte Elias und Nina mit ihrer nicht aufgearbeiteten, längst beendeten Beziehung. Liebe im OP? Das hört sich doch schwer nach – genau! Die Lehrerin am Simon-Marius-Gymnasium Christine Höller hatte sich nach einigem Überlegen getraut und servierte dem Publikum einen sogenannten Groschenroman, der nach ihrer Recherche übrigens nicht zuletzt dank der anonymen E-Book-Reader in den letzten Jahren wieder neuen Zulauf erhalten hat.

Vom "Notarzt" bis hin zu Erotikromanen wurden im vergangenen Jahr rund 10 Millionen Exemplare dieser immer 64 Seiten umfassenden Geschichten verkauft.

Fremdes Blut abgelehnt

Soll sie einen jungen Mann zu einer lebensrettenden Bluttransfusion zwingen? Vor dieser schweren Entscheidung steht die Richterin Fiona. Der Junge gehört, wie seine Eltern, den Zeugen Jehovas an. Deshalb lehnt er es ab, fremdes Blut zu bekommen. Auch wenn das für ihn das Todesurteil sein kann. Da er zwar fast, aber – da erst kurz vor seinem 18. Geburtstag – noch nicht ganz volljährig ist, wurde das Gericht hinzugezogen. Um sich ein Bild zu machen, besucht Fiona den Jungen im Krankenhaus. Und diese Szene aus Ian McEwans Roman "Kindeswohl" las Kerstin Zels in der Lüftungszentrale im Gartengeschoss.

Einen echten Kulturschock bereitete dann der Chef der Gunzenhäuser Tourist-Information Wolfgang Eckerlein den Besuchern im BRK-Heim. In der Garage wirkungsvoll vor einem offenen Rettungswagen platziert, entführte er seine Gäste in den "Horror der frühen Medizin" und "Joseph Listers Kampf gegen Kurpfuscher, Quacksalber & Knochenklempner". Die Medizinhistorikerin Dr. Lindsey Fritzharris schildert lebensecht die katastrophalen Zustände, die Patienten Mitte des 19. Jahrhunderts in Krankenhäusern erwartete.

Der Unterschied konnte vor dem Hintergrund des hellen, freundlichen und blitzsauberen Klinikums, aus dem die Zuhörer gerade kamen, nicht größer sein. Waren schon die katastrophalen Wohnverhältnisse in den Armenvierteln Londons nicht eben lebensförderlich, so konnte eine Amputation das Todesurteil sein. Ein Mann hatte, so eine damalige Volksweisheit, auf dem Schlachtfeld größere Überlebenschancen als im Krankenhaus. Geschuldet war dies vor allem den unbeschreiblichen hygienischen Verhältnissen. Am Ende gab es, wie an allen Stationen, auch für Wolfgang Eckerlein viel Beifall. Eine gewisse Erleichterung war unterm Publikum aber durchaus zu spüren, dass es nun ins saubere Hier und Jetzt zurück durfte.

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