Große Umwege wegen überfüllter Kliniken

Kollaps im Rettungsdienst droht: "Lebensgefährliche Verzögerungen sind Alltag"

3.12.2021, 05:59 Uhr
Wenn Corona-Infizierte transportiert werden, muss das Personal im Rettungsdienst sogenannten Vollschutz tragen. Nach dem Einsatz wird das Fahrzeug desinfiziert - ein Prozedere, das dauert. 

© Matthias Balk, dpa Wenn Corona-Infizierte transportiert werden, muss das Personal im Rettungsdienst sogenannten Vollschutz tragen. Nach dem Einsatz wird das Fahrzeug desinfiziert - ein Prozedere, das dauert. 

Was der drohende Kollaps des Gesundheitssystems bedeutet, erlebt Julian Lohse Tag für Tag hautnah. Erst kürzlich war der stellvertretende Chef des Nürnberger Rettungsdienstes dabei, als ein Mann reanimiert werden musste. "Er hatte einen Herz-Kreislauf-Stillstand", erklärt der Notfallsanitäter. "Im ganzen Leitstellengebiet gab es aber nur ein freies Bett - und das wäre in Neustadt an der Aisch gewesen." In einem Einsatz, in dem es um Minuten geht, hätte ein Patient quer durch Mittelfranken transportiert werden müssen. "Und das bei einer Person, bei der fraglich ist, ob sie die Prozedur überhaupt überlebt."

Es ist nur ein Beispiel von vielen sagen Retter, die wissen, worüber sie sprechen. "Lebensgefährliche Verzögerungen sind leider mittlerweile Alltag", erklärt Sohrab Taheri-Sohi, Sprecher des Bayerischen Roten Kreuzes (BRK). Von Niederbayern bis in die Oberpfalz, von München bis nach Nürnberg, überall arbeitet der Rettungsdienst am Limit. Mancherorts ist die Grenze zum Kollaps fast überschritten. "Dass Menschen ein Intensivbett in der Notaufnahme oder einen Schockraum brauchen, und diesen in der nächstgelegenen Klinik nicht bekommen, passiert jeden Tag."

Das hat viele Gründe - besonders der Transport von Infizierten laugt den Rettungsdienst aber immer weiter aus. Während es im Sommer noch rund 500 waren, müssen die Retter mittlerweile in der Spitze mehr als 3000 solcher Einsätze in der Woche abspulen. "Die Zahl der normalen Einsätze ist zwar annähernd gleich geblieben", erklärt Taheri-Sohi, "aber die Dauer hat extrem zugenommen."

Infektionstransporte sind aufwendig - und dauern

Die Infektionstransporte sind aufwendig. "Das Personal muss sich in solchen Fällen einen Schutzanzug anlegen", erklärt Lohse vom Nürnberger Rettungsdienst. Kopfhaube, ein doppeltes Paar Handschuhe, Brille über der Brille. "Wir überlegen uns genau, wen oder was wir anfassen." Nach der Fahrt mit einem möglicherweise Corona-Infizierten müssen die Fahrzeuge gereinigt werden, das Material, die Geräte. "Das dauert sicherlich eine halbe Stunde." Währenddessen kann die Besatzung keine neuen Einsätze annehmen. Das verschärft die angespannte Situation immer weiter.

Zwar schnellte die Zahl der Infektionstransporte bereits in vergangenen Wellen in die Höhe. "Damals haben sich die Menschen aber auch aus der Öffentlichkeit zurückgezogen", erklärt BRK-Sprecher Taheri-Sohi. Weniger Verkehrsunfälle, kaum Zwischenfälle mit Sportlern, die Retter konnten sich nur auf die Fahrten der Infizierten konzentrieren. "Das ist jetzt anders. Heute haben wir das normale Tagesgeschäft plus die Pandemie - und dann noch die Infektionstransporte."

Lage ist "hochvolatil", sagt BRK-Sprecher

Schon Mitte November schlug das Bayerische Rote Kreuz Alarm. Immer mehr Corona-Infizierte landen in der Notaufnahme, Kliniken sind überlastet, viele bereiten sich auch in Franken bereits auf eine drohende Triage vor - derweil kämpft auch der Rettungsdienst mit immer mehr Ausfällen. Ein brandgefährlicher Cocktail, der das System an den Rande des Kollapses bringt. "Das Personal ist physisch und psychisch am Limit", sagte BRK-Präsident Theo Zellner, ein Mann, der zwar nicht um klare Worte verlegen ist, den man aber selten derart deutlich und emotional erlebt hat.

Seit dem Warnruf der Rettungsdienste hat sich nichts verändert. Im Gegenteil. Zwar flog die Bundeswehr rund 50 bayerische Intensivpatienten in den Norden aus. Die Lage ist aber "hochvolatil", wie BRK-Sprecher Taheri-Sohi sagt. Der Kollaps des Gesundheitssystems schwebt auch über den Rettungsdiensten. Die Strecken für ein freies Intensivbett werden immer weiter, die Einsätze dauern deutlich länger. Die Rettungswache sehen viele nicht einmal mehr in ihrer Pause, oft tragen die Helfer acht Stunden am Stück ihre FFP2-Maske. "Da sieht man dann schonmal die Abdrücke von Mund-Nase-Schutz und Brille im Gesicht", sagt Lohse.

"Es nagt an allen"

Das Personal ist am Limit. Auch das Nürnberger BRK bestätigt, dass der Krankenstand unter den Mitarbeitern ungewöhnlich hoch sei, immer mehr landen selbst in Quarantäne. Die Angst und der permanente Stress haben aber auch psychische Folgen. Besonders emotional wird es dann, wenn Patienten um ihr Überleben kämpfen, sich aber keine aufnehmende Klinik finden lässt. "Die Leitstelle braucht oft eine halbe oder dreiviertel Stunde, um ein Bett zu organisieren", sagt Lohse. "Währenddessen steht das Team im Rettungswagen und sieht, wie jemand Schmerzen hat." Zwar haben Rettungskräfte die Möglichkeit zur Akutbelegung, Kliniken müssen dann aufnehmen - allerdings nur zur Notversorgung. Anschließend müssen die Menschen dann jedoch abermals verlegt werden, was zusätzlich Stress bedeutet. Für Helfer und Patient.

Zwar seien die Retter erfahren und routiniert im Umgang mit Krisen. "Aber die Pandemie ist nicht wie eine Amoklage oder ein Terroreinsatz", sagt BRK-Sprecher Taheri-Sohi. In solchen Situationen seien die Kräfte einige Stunden unter Hochspannung, womöglich auch selbst in Lebensgefahr. "Aber das ist irgendwann vorbei. Dann redet man, dann arbeiten Kriseninterventionsteams das Erlebte auf. Die Schublade geht zu." Bei Corona sei das anders, die Dauerschleife zermürbt die Rettungsdienstler. "Es nagt an allen."

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