NS-Verbrechen

Letzte KZ-Wachleute sollen vor Gericht - darunter ein Verdächtiger aus Unterfranken

4.8.2021, 17:56 Uhr
Oberstaatsanwalt Thomas Will ist der Leiter der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen Baden-Württemberg zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg. Er hat die Ermittlungen über die KZ-Wachmänner vorangetrieben. 

© Sebastian Gollnow, dpa Oberstaatsanwalt Thomas Will ist der Leiter der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen Baden-Württemberg zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg. Er hat die Ermittlungen über die KZ-Wachmänner vorangetrieben. 

Die letzten noch lebenden KZ-Wachleute sollen sich bald vor Gericht verantworten müssen. Doch die Ermittlungen sind schwierig und aufwendig, die mutmaßlichen Täter hochbetagt.

Derzeit stehen 17 Verdächtige im Fokus der Justizbehörden. Darunter ist auch ein 96-jähriger Mann aus Unterfranken, der Mitglied der Wachmannschaft im KZ Flossenbürg gewesen sein soll.

95 Jahre alte ehemalige Sekretärin angeklagt

Es geht in den Verfahren um den Vorwurf der Beihilfe zum Mord, wie Oberstaatsanwalt Thomas Will sagt. Der 60-Jährige leitet die Zentrale Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg in Baden-Württemberg. Im Herbst sollen die Prozesse gegen zwei ehemalige KZ-Mitarbeiter beginnen: Vor dem Landgericht Itzehoe in Schleswig-Holstein ist eine 96 Jahre alte Frau angeklagt, die als Sekretärin im KZ Stutthof tätig gewesen war.

Ein fast 101-jähriger früherer Wachmann aus dem KZ Sachsenhausen wird sich wohl vor dem Landgericht Neuruppin in Brandenburg verantworten müssen. Darüber hinaus werden neun Verdachtsfälle von den Staatsanwaltschaften Erfurt, Weiden, Hamburg und Neuruppin sowie von der Generalstaatsanwaltschaft Celle bearbeitet. Die Zentrale Stelle führe zudem Vorermittlungen in sechs weiteren Fällen, sagt Will.

Die Verdächtigen waren in der Endphase des Zweiten Weltkrieges überwiegend zur Bewachung in Konzentrationslagern eingesetzt. Die Behörden stünden immer wieder vor der Frage der Verhandlungsfähigkeit, sagt Will. In einem vor dem Landgericht Wuppertal angeklagten Fall sei es genau deswegen nicht zum Prozess gekommen.

Im Fall des hochbetagten Mannes in Neuruppin sei beispielsweise festgelegt worden, dass ein Verhandlungstag längstens zweieinhalb Stunden dauern dürfe, sagte ein Sprecher des Landgerichtes. Immer wieder müssen Ermittlungen auch eingestellt werden, weil Verdächtige zwischenzeitlich gestorben sind, zuletzt in einem Fall in Erfurt.

Auch der Weidener Oberstaatsanwalt Christian Härtl kann noch nicht sagen, ob ein 96-jähriger Mann, der als Wachmann im KZ Flossenbürg gearbeitet haben soll, überhaupt vor Gericht erscheinen muss. Zur Vernehmung wird der Oberstaatsanwalt wohl in dessen Wohnort nach Unterfranken reisen. Man müsse sehr sensibel vorgehen, betont Härtl, es handele sich hier mit Blick auf das Alter der Verdächtigen um "sehr spezielle Verfahren".

Wehrpass im Internet

Nach derzeitigen Erkenntnissen war der Unterfranke Aufseher in Flossenbürg, nicht aber in der Dependance in Hersbruck. Die genauen Details müsse man erst noch ermitteln. Geholfen habe aber, dass tschechische Behörden die Wehrpässe der Betroffenen im Internet veröffentlicht haben. So sei man den NS-Schergen auf die Spur gekommen.

Das tschechische Militärarchiv in Prag hatte Pässe ehemaliger SS-Angehöriger ins Internet gestellt, darunter war auch der Ausweis des heute 96-Jährigen. Die Bewachung der Häftlinge in einem Kriegsgefangenenlager oder KZ mache eine Anklage wegen Mord-Beihilfe möglich, erklärt Thomas Will von der Zentralen Stelle zur Aufklärung der NS-Verbrechen.

Maßgeblicher Impuls hierfür sei der Fall John Demjanjuk gewesen. Der
einstige NS-Befehlsempfänger war 2011 im Alter von 91 Jahren in München wegen Beihilfe zu Mord in mehr als 28 000 Fällen zu einer fünfjährigen Haftstrafe verurteilt worden. Demjanjuk sei als Wachmann Teil der Vernichtungsmaschinerie gewesen, befanden die Richter.

In Prozessen gegen NS-Verbrecher in den 1960er oder 70er Jahren seien einstige Wachleute zwar als Zeugen vernommen worden, hätten aber nicht auf der Anklagebank gesessen, sagt Will. Damals hätten sich Ermittlungen auf diejenigen konzentriert, die konkret an Tötungen beteiligt waren.

Auch früher habe es schon Versuche gegeben, "den Kosmos der Helfer
und Helfershelfer" vor Gericht zu bringen, was aber nicht gelungen sei. Der Fall Demjanjuk brachte eine Wende: Seither seien drei weitere Männer verurteilt worden – zuletzt im vergangenen Jahr -, weil sie durch ihren Wachdienst Beihilfe geleistet hätten, sagt Will.

Entscheidend sei bei Ermittlungen wegen Beihilfe zum Mord, dass für die Wachleute damals erkennbar war, dass systematisch Morde begangen wurden - beziehungsweise dass die Häftlinge in einem Konzentrationslager oder Kriegsgefangenenlager unterversorgt und dem Tode geweiht waren.


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Und so wie Mord nach deutschem Recht seit 1979 nie verjährt, verjährt auch die Mord-Beihilfe nicht, sofern sie sich auf die Mordmerkmale der Heimtücke oder der Grausamkeit bezieht, wie Thomas Will erläutert. Tod durch Vergasen oder durch Verhungern und Erschöpfung fällt nach juristischen Maßstäben unter Grausamkeit, Erschießen eines arglosen Menschen von hinten beispielsweise gilt als heimtückisch.

Eine weitere wichtige Quelle sei das Militärarchiv in Moskau, sagt Will. Aber auch in KZ-Gedenkstätten fänden sich aufschlussreiche Unterlagen. Zudem seien viele Wachleute, die früher als Zeugen vernommen worden waren, bereits in der umfangreichen Kartei der Zentralen Stelle zu finden.

Hilfreiche Liste aufgetaucht

Immer wieder tauchen auch bislang unbekannte, hilfreiche Dokumente auf: Jüngst habe etwa ein Historiker bei Recherchen eine Liste mit Namen von Personal aus einem
Kriegsgefangenenlager aufgetan und nach Ludwigsburg weitergeleitet.

Viele der früheren KZ-Mitarbeiter hätten ihre Tätigkeit im Laufe der Jahre wohl verdrängt, sagt Will. "Es wird einfach nicht darüber gesprochen." Der Sprecher der Staatsanwaltschaft Neuruppin pflichtet dem bei und ergänzt, wirklich reumütig erlebt habe er Verdächtige bislang nicht. Sie gäben meist an, "keine andere Wahl" gehabt zu haben. Ein Argument, das vor Gericht oft nicht standhalte.