Letzter Henker Bayerns: Dieser Mann tötete 3000 Menschen

24.6.2019, 05:44 Uhr
Letzter Henker Bayerns: Dieser Mann tötete 3000 Menschen

© Imago/United Archives International

Er hatte mit Kohlköpfen und auch mit einer Leiche geübt, dennoch findet Johann Reichhart in der Nacht vor seinem ersten Auftrag keinen Schlaf. Mitten in der Nacht geht er noch einmal zum Arbeitshof des Landgerichtsgefängnisses Landshut und löst probehalber den Sperrhebel der dort aufgebauten Guillotine. Das Fallbeil saust herab, der einigermaßen beruhigte Reichhart legt sich wieder hin.

Am Morgen des 24. Juli 1924 richtet Reichhart, der drei Monate zuvor vom bayerischen Justizministerium zum Henker bestellt worden war, zum ersten Mal einen Menschen hin. Nachdem der Kopf des Mörders Rupert Fischer in den bereitstehenden Korb gefallen ist und ein Arzt offiziell den Tod des Delinquenten festgestellt hat, beglückwünscht der Staatsanwalt Bayerns neuen Scharfrichter zur bestandenen Feuertaufe und wünscht ihm viel Erfolg für die weitere "Karriere".

Und diese Karriere verläuft in der Tat einzigartig. Reichhart tötet in der Weimarer Republik, wird dann zum mörderischen Diener des NS-Regimes und hängt nach dem Ende des Dritten Reichs im Auftrag der US-Militärregierung über 150 zum Tode verurteilte Nationalsozialisten und Kriegsverbrecher. Alles in allem sterben über 3000 Menschen durch die Hand des wahrscheinlich meistbeschäftigten Henkers der deutschen Geschichte. Der letzte Spross einer bayerischen Scharfrichter-Sippe ist jedoch auch ein zutiefst unglücklicher Mensch, der immer wieder erfolglos versucht, auf andere Weise seinen Lebensunterhalt zu verdienen, und der Zeit seines Lebens von seinen Mitmenschen verachtet und ausgegrenzt wird.

Viele Journalisten und Sachbuch-Autoren haben sich bereits mit Reichhart beschäftigt, auch ein Theaterstück widmet sich der unfassbaren Lebensgeschichte von "Bayerns letztem Henker", wie der Untertitel eines neuen Buches über den berühmten Scharfrichter lautet. Roland Ernst, der unter anderem psychologischer Coach und Gastdozent an der Georg-August-Universität Göttingen zum Thema "Todesstrafe" ist, hat für seine im Allitera-Verlag erschienene Biographie "Der Vollstrecker" zahlreiche bislang unveröffentlichte Akten und Dokumente gesichtet und sich der Person Reichhart auch von psychologischer Seite angenähert.

Auch sein Onkel war Scharfrichter

Johann Baptist Reichhart wird am 29. April 1893 in Wichenbach, einem winzigen Ort im Landkreis Regensburg, geboren, und seine spätere Laufbahn wird ihm quasi in die Wiege gelegt. "Seit circa 300 Jahren stammen die Scharfrichter in Bayern aus meiner Familie", gibt er gegen Ende seines Lebens fast schon entschuldigend zu Protokoll. Tatsächlich arbeitet sein Onkel Franz Xaver Reichhart als "Nachrichter", so die offizielle Berufsbezeichnung, während sein Vater als Abdecker für die Beseitigung von Tierkadavern und die Tierkörperverwertung verantwortlich ist. Die Vertreter dieser beiden Zünfte waren stets Außenseiter der Gesellschaft, die meist außerhalb der Dörfer und Städte lebten und arbeiteten und die auch untereinander heirateten.

Der junge Oberpfälzer, der am liebsten Tanzlehrer geworden wäre, entzieht sich jedoch zunächst dieser Familientradition, erlernt das Metzgerhandwerk und geht auf die Walz. Anfang der 1920er Jahre kehrt er aber nach Bayern zurück, heiratet und betreibt eine Bahnhofswirtschaft in Neubiberg. Viel verdient ist damit aber nicht, und so kommt Reichhart 1924 der Bitte seines Onkels nach, in dessen Fußstapfen als Scharfrichter zu treten.

150 Goldmark pro Hinrichtung

Doch obwohl der Henkerslohn mit 150 Goldmark pro Exekution plus Spesen vergleichsweise üppig ist, steckt der vierfache Vater immer wieder in finanziellen Nöten. "Da nun seit Letzterem sämtliche Mörder, die zum Tode verurteilt, begnadigt wurden, war ich in meinen geschäftlichen Reisen so gehindert, dass ich manche Woche keinen Pfennig verdient habe", klagt er in einem Schreiben an das bayerische Justizministerium. Reichhart versucht sich als Fuhrunternehmer sowie als Verlagsvertreter, der durch Oberbayern radelt, um ein katholisches Erziehungspamphlet mit dem skurrilen Titel "Von Mädchenglück und Frauenliebe" unter die Leute zu bringen. Zeitweise lebt der Nebenerwerbshenker in Holland, arbeitet dort als Gemüsehändler und verkauft sogenannte Hochfrequenzapparate, deren elektrische Reize alle möglichen psychischen und körperlichen Beschwerden lindern sollen.

Als Adolf Hitler im Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt wird, brechen jedoch goldene Zeiten für Reichhart an. Fähige Henker sind nun sehr begehrt, und der bayerische Fachmann wird zum rastlosen Reisenden in Sachen Enthauptung und Erhängung. Reichhart und seine Gehilfen hetzen durch ganz Deutschland, um die zahlreichen Todesurteile der NS-Justiz zu vollstrecken. Ihr trauriger Rekord: 32 Enthauptungen an einem einzigen Tag. Angesichts des oft enormen Zeitdrucks beantragt der nun prächtig verdienende Scharfrichter, bei seinen Fahrten nach Stuttgart, Frankfurt, Dresden oder Berlin die zulässige Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften überschreiten zu dürfen.

Beeindruckt vom Mut Sophie Scholls

Letzter Henker Bayerns: Dieser Mann tötete 3000 Menschen

© Walter Haberland/dpa

Reichharts prominenteste Opfer sind die Mitglieder der Widerstandsgruppe Weiße Rose: Am 22. Februar 1943 köpft er zunächst Sophie Scholl, dann ihren Bruder Hans und Christoph Probst. Später erzählt er immer wieder, wie beeindruckend tapfer die 21-Jährige vor die Guillotine getreten sei.

Der Blutdurst der Nationalsozialisten wird immer größer, teilweise werden Menschen wegen kleiner Diebstähle hingerichtet oder wegen der Äußerung, dass der Krieg eigentlich schon verloren sei. Den gläubigen Katholiken Reichhart scheinen bei seinem tödlichen Handwerk jedoch keine Gewissensbisse zu plagen: "Ich habe Todesurteile vollzogen in der festen Überzeugung, dem Staat mit meiner Arbeit zu dienen und nur rechtmäßige erlassene Gesetze zu befolgen", wird er von Johann Dachs, dem Autor einer weiteren Reichhart-Biographie, zitiert.

Nach Kriegsende wird der Scharfrichter von Angehörigen der US-Armee verhaftet und sitzt für kurze Zeit im Gefängnis. Doch so sehr ihn die Alliierten auch verachten, so haben sie dennoch Verwendung für seine blutige Kunst. Unter anderem lernt Reichhart den amerikanischen Unteroffizier John C. Woods an, der später die Verurteilten der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse aufhängt.

Trotz dieser Dienste wird der Oberpfälzer im Mai 1947 in einem Spruchkammerverfahren zu zwei Jahren Arbeitslager verurteilt. Außerdem wird der Großteil seines Vermögens eingezogen. Der alkoholkranke Reichhart muss nun von einer kleinen Invalidenrente leben. Seine Ehe ist schon Jahre zuvor zerbrochen, sein Sohn Hans begeht 1950 Suizid, weil ihn der Beruf des Vaters und dessen Entnazifizierungsverfahren so stark belastet hatten.

Johann Reichhart, der auch unter einem Kriegstrauma leidet (im Ersten Weltkrieg dient er als Maschinengewehr-Schütze und ist nach einem Granateinschlag tagelang verschüttet), ist ein gebrochener Mann. Die letzten Jahre seines Lebens verbringt er einsam in einem Pflegeheim, in dem er von seinen Mitbewohnern komplett gemieden wird. "Ich tät's nie wieder", sagt er kurz vor seinem Tod im Jahr 1972.

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