Wie wichtig ist künftig die Inzidenz?

Neue Kriterien zur Bewertung der Corona-Lage: Die Suche nach Söders "Glücksformel"

20.8.2021, 05:48 Uhr
Neue Kriterien zur Bewertung der Corona-Lage: Die Suche nach Söders

© Christophe Gateau/dpa

Eines zumindest ist sicher: Die Inzidenz, also die Zahl der nachgewiesenen Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen, wird der zentrale Wert zur Beurteilung des Pandemie-Geschehens bleiben. Sie ist laut einer Sprecherin des bayerischen Gesundheitsministeriums nach wie vor "der früheste Indikator, der die Infektionsdynamik abbildet". Zugleich müssten künftig andere wesentliche Parameter wie die Belegung der Krankenhaus-Intensivbetten einen stärkeren Einfluss finden.

Werden in Zukunft aber noch weitere Kriterien, etwa die Kontaktnachverfolgung durch die Gesundheitsämter, für die Berechnung der "Glücksformel" relevant werden? Das ist allem Anschein nach noch nicht spruchreif. Bei welchen Grenzwerten bei der Inzidenz oder bei welchen Prozentzahlen der Auslastung der Krankenhäuser beziehungsweise der Intensivstationen die Regierung zusätzliche Maßnahmen zur Eindämmung des Infektionsgeschehens ergreifen wird, darauf gibt es bislang keine konkrete Antwort. Bayern berate intensiv, erklärt die Ministeriumssprecherin, sie bleibt bezüglich möglicher Details aber unverbindlich.

Die Frage ist nun, ob nach dem Auslaufen der bis 25. August geltenden 13. Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung andere Grenzwerte eingeführt werden als zum Beispiel die 50er-Inzidenz, ab der Kontaktbeschränkungen oder eine Testpflicht in der Gastronomie für ungeimpfte Gäste gelten. Schließlich gehen viele Epidemiologen davon aus, dass bei der vierten Welle der Anteil von Corona-Opfern mit schweren Krankheitsverläufen deutlich niedriger sein wird als bei der zweiten und dritten Welle.

Prozentsatz der schweren Fälle wird wohl sinken

Nach Modellrechnungen des Robert Koch-Instituts (RKI) werden die Inzidenzen in Deutschland auch bei einer Impfquote von 75 Prozent bis zum Herbst (aktuell sind laut den jüngsten Zahlen 56,8 Prozent der bayerischen Bevölkerung vollständig geimpft) wieder dreistellige Werte erreichen. Aufgrund der höheren Impfquote in den älteren Bevölkerungsgruppen wird sich das Infektionsgeschehen aber aller Voraussicht nach auf die jüngeren Menschen verlagern - und die erkranken seltener so schwer, dass sie stationär im Krankenhaus versorgt werden müssen.


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Professor Joachim Ficker, Leiter der Pneumologie am Klinikum Nürnberg, warnt dennoch eindringlich davor, die künftigen Parameter bei der Sieben-Tage-Inzidenz zu großzügig anzusetzen. Der Alarm müsse schon ertönen, wenn das Flugzeug an Höhe verliere, und nicht erst, wenn es auf dem Boden aufschlage, erklärt der Mediziner.

Er halte es prinzipiell für gut, mehrere Parameter zur Beurteilung der Corona-Lage einzusetzen, "aber wenn man die Auslastung der Krankenhäuser als Kriterium heranzieht, hat man eben immer auch einen nicht zu unterschätzenden zeitlichen Versatz", gibt Ficker zu bedenken. Das Infektionsgeschehen dann wieder unter Kontrolle zu bekommen, sei extrem schwierig. Das habe man während der bisherigen Corona-Wellen gelernt, sagt der Experte für Lungenerkrankungen, dessen Team seit Beginn der Pandemie über 1000 Covid-19-Patienten versorgen musste. Alles in allem wurden im Klinikum Nürnberg bisher über 2500 Corona-Opfer behandelt, 502 überlebten die Erkrankung trotz aller medizinischen Bemühungen nicht.

Jeder Intensivpatient ist einer zu viel

Angesichts dessen zeigt sich Ficker skeptisch, ob die Auslastung der Intensivbetten ein Kriterium zur Lagebeurteilung sein sollte. "Das ist in etwa so, als wenn man sagen würde: Es dürfen so und so viele Flugzeuge abstürzen, denn so und so viele verletzte Absturzopfer können die Unfallchirurgen bewältigen", erklärt der Mediziner. Dabei sei jeder Intensivpatient eigentlich einer zu viel.

Auch Professor Ralf Wagner von der Uniklinik Regensburg plädiert dafür, dass die Inzidenz das maßgebliche Instrument im "Werkzeugkasten" gegen die Pandemie bleibt. "Es ist quasi das Fernglas, mit dem ich das künftige Infektionsgeschehen im Blick habe", verdeutlicht der Experte, der mit seinem Team vom Institut für Mikrobiologie und Hygiene eine wissenschaftliche Studie im Landkreis Tirschenreuth durchgeführt hat. Bei Untersuchungen von mehreren tausend Blutproben auf Antikörper stellte sich heraus, dass in dem einstigen Corona-Hotspot bei der ersten Welle lediglich 20 Prozent der Infektionen entdeckt worden waren.

"Inzwischen haben wir aber eine viel bessere Datengrundlage zum Beispiel durch die zahlreichen Tests", sagt Wagner. Und diese Grundlage müsse auch künftig konsequent zur Analyse des Infektionsgeschehens genutzt werden.


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Professor Lars Dölken wiederum befürchtet, dass trotz all der derzeit diskutierten Rechenmodelle ein weiteres Mal die Kinder und Jugendlichen vergessen werden könnten. "Die wird es in der vierten Welle ganz besonders treffen", prophezeit der Inhaber des Lehrstuhls für Virologie an der Universität Würzburg.

Wenn es für die kein schlüssiges Hygiene- und Testkonzept gibt, wird laut Dölken eine Infektionswelle durch die Schulen und Kitas - ähnlich wie in Großbritannien - rollen. Zwar mit leichteren Verläufen, doch erneute monatelange Schulschließungen würden die Folge sein.

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