92-Jähriger besucht Gräber seiner Ahnen in Sulzbürg

16.7.2018, 11:30 Uhr
92-Jähriger besucht Gräber seiner Ahnen in Sulzbürg

© Foto: Anestis Aslanidis

Viel ist passiert in seinem langen Leben. Als Neunjähriger bestieg er ein Auswanderer-Schiff nach USA, auf hoher See feierte er  seinen zehnten Geburtstag.

Gottfried kam in Ulm zur Welt, ging dort zur Schule. Er war das einzige jüdische Kind in seiner Klasse, wurde "ein paar Mal verprügelt", sagt der 92-Jährige heute. Er kann sich noch gut an den Tag erinnern, als er ein Lied auswendig lernen musste, das mit den Zeilen endete "Juda den Tod!". Er habe sich als Kind darüber lustig gemacht, nie gedacht, dass das ernst genommen werden könnte. "Doch meine Mutter erbleichte, als sie das las, und ging tapfer zum Lehrer."

Der Lehrer, ein SA-Mann, der manchmal in Uniform vor die Klasse trat, sagte zur Mutter: "Des is aber so, kammer nit ändre, für an kleinen Jud." Immerhin sei er höflich gewesen, habe sie empfangen; einige Jahre später wäre das anders ausgegangen.

Hugo, Gottfrieds Vater, ein Kinderarzt, hatte die Zeichen schon vorher gesehen und richtig interpretiert: "Er sah, dass ein normales Leben für seine Familie in Deutschland nicht möglich ist", sagt Gottfried. 1933 bereits hatte er in den USA sondiert, ob er auch dort als Arzt praktizieren könne. Das ging, und die Familie, die Eltern mit Gottfried und seiner Schwester, wanderte 1936 aus.

Nun stand er vor dem Grab seines Urgroßvaters Jacob Neuhaus, der in Sulzbürg gelebt hatte, ein Webermeister, wie Heide Inhetveen, die Kennerin der jüdischen Ortsgeschichte, bei dem Besuch auf dem Friedhof erläutert. Dessen Sohn Emmanuel ging nach Ellwangen, er hatte 21 Kinder; eins davon, Hugo, zog nach dem ersten Weltkrieg nach Ulm - er ist Gottfrieds Vater.

In den USA ließen sich die Neuhaus’ in Freeport auf Long Island nieder. Gottfried musste "zwei Sprachen auf einmal lernen: englisch und hochdeutsch, denn das konnte ich nicht."

Auch heute noch blitzt immer wieder der schwäbische Zungenschlag durch, "a bissle schwäbelen kann i no", sagt er. Nach der Schule "habe ich alles Mögliche studiert", war bei der Army. Dann lernte er seine Frau Helen kennen, beide waren in Mexiko tätig, wo sie unterrichteten. Gottfried - auf amerikanisch: Goeffrey - arbeitete dann für eine pharmazeutische Firma, für die er in der ganzen Welt unterwegs war. Das Paar hat fünf Kinder bekommen, und inzwischen vier Enkel und zwei Stief-Urenkel. Jetzt lebt Gottfried in New Jersey, er ist topfit, fährt mit dem Rad zum Tangokurs und scheut keinen steilen Hang auf dem hügeligen Sulzbürger Friedhof.

Zwei Töchter, Chava und Susanna mit ihrem Mann Bill, begleiteten ihn auf der Reise zu den Wurzeln; die Ehefrau Helen ist vor acht Jahren gestorben, hat aber vor rund 30 Jahren mit ihrem Mann schon mal Sulzbürg besucht. Als sie eine Familie gründen wollten, erwachte Gottfrieds Interesse für seine eigene Familiengeschichte, er fragte seinen Vater und recherchierte – und sieht nun den Friedhof mit so vielen seiner Verwandten, auch die Familie Neustädter gehört dazu.

"My Oma" erzählte von früher

Tochter Chava ist bewegt beim Besuch auf dem Friedhof. An "my Oma", ihre Großmutter Marie, Hugos Frau, kann sie sich gut erinnern, an ihren starken deutschen Akzent. Sie habe oft von der Zeit in Deutschland erzählt. "Ihr Leben ist auseinandergerissen worden", sagt Chava, sie habe sich nie davon erholt — vom Abschied von der Heimat und den vielen Freunden und Verwandten, die in Deutschland geblieben sind und die zum Teil ein furchtbares Schicksal unter dem Nazi-Regime erlitten.

Um die Erinnerung wachzuhalten, ist die Initiative Stolpersteine in Sulzbürg und Neumarkt aktiv, Heide Inhetveen ist auch hier engagiert. Heute werden an beiden Orten Stolpersteine verlegt, die an jüdische Bewohner erinnern, die von den Nazis ermordet wurden.

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