Domspatzen: Sexueller Missbrauch wird neu aufgerollt

15.1.2015, 22:00 Uhr
Domspatzen: Sexueller Missbrauch wird neu aufgerollt

© Edgar Pfrogner

In der Sendung „Sünden an den Sängerknaben“ am 7. Januar im „Ersten“ sah ein Millionenpublikum den 63-jährigen Georg Auer aus Südbayern vor dem Pfarrhof von St. Johannes in Neumarkt. In den Räumen der katholischen Kirche hatte sich der ehemalige Domspatz nach Recherchen der Neumarkter Nachrichten im Oktober 2010 mit seinem mutmaßlichen Peiniger aus der Schulzeit getroffen - ohne dass einer der Beteiligten einen Neumarkter Bezug hat. Zeugin des Gesprächs, das das Fernsehteam später für die Dokumentation nachspielen ließ: die damalige Missbrauchsbeauftragte des Bistums Regensburg, Birgit Böhm.

Bei dem Treffen habe der inzwischen grauhaarige, alte Mann zunächst abgestritten, jemals Erzieher in dem Domspatzen-Vorschul-Internat in Etterzhausen bei Regensburg gewesen zu sein, heißt es in dem TV-Beitrag.

„Medizin“ eingeflößt

Erst nach Vorlage eines Klassenfotos aus dem Schuljahr 1960/61 habe er zugegeben, als Präfekt in Etterzhausen gearbeitet zu haben. Dann, nach einem tränenreichen Gespräch zwischen Opfer und Täter, das Geständnis: Der frühere Erzieher bat um Verzeihung, „sollte ich Böses getan haben“, zitiert Georg Auer den Mann. Es tue ihm alles leid. Das war 2010.

Bereits vier Jahre vorher, 2006, hatte der ehemalige Domspatz nach vielen Jahren sein Schweigen gebrochen: In einem Brief an seine ehemalige Schule schilderte Auer seine schrecklichen Erlebnisse als Neunjähriger.

Prügel, Demütigungen und vor allem einen Vorfall im Zimmer des besagten Erziehers, an den sich der Schüler später nur noch bruchstückhaft erinnern konnte, weil ihm der Präfekt eine „Medizin“ eingeflößt habe. Angesichts dieser Schilderungen steht für Professor Christian Pfeiffer vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen im Raum, ob es damals zu einem schweren sexuellen Missbrauch gekommen ist, wie er im ARD-Interview erklärte.

Für den mutmaßlichen Sexualtäter ist der beschriebene Übergriff strafrechtlich ohne Folgen geblieben: Etwa vier Wochen vor dem Geständnis von Neumarkt im Beisein der Zeugin des Bistums hat laut Michael Sieber die Staatsanwaltschaft Regensburg das Ermittlungsverfahren gegen den früheren Domspatzen-Erzieher eingestellt — wegen Verjährung.

Die Anklagebehörde habe sich bei der Berechnung der Frist ausdrücklich auf das in den 60ern geltende Recht im Fall eines schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern bezogen, berichtet Sieber, der das „Unabhängige Archiv ehemaliger Regensburger Domspatzen“ führt. Er ist auch Sprecher und Koordinator der „Gesellschaft gegen das Vergessen“, die nach eigenen Angaben 60 bis 70 ehemalige Domspatzen registriert hat, die zwischen 1945 und 2000 zu Opfern sexuellen Missbrauchs geworden sein sollen — eine Zahl, die Bistumssprecher Clemens Neck im NN-Interview nicht bestätigen konnte.

„Therapeutischer Charakter“

Unabhängig von straf- und kirchenrechtlichen Verfahren hat das Bistum ein „Anerkennungsverfahren“ für Opfer sexuellen Missbrauchs in kirchlichen Einrichtungen eingeführt — ein kompliziertes, nichtöffentliches Prozedere, bei dem laut Bistumssprecher Neck am Ende „private Vereinbarungen manchmal auch mit therapeutischem Charakter“ stehen. Opfern hat die Kirche in etlichen Fällen Geldzahlungen angeboten und auch geleistet.

Ein Antrag Georg Auers in dem Anerkennungsverfahren ist vom Bistum abgewiesen worden. Dass er damit als „unglaubwürdig“ hingestellt werde, sei ganz so, als ob „mir jemand auf den Kopf geschlagen hätte“, erklärte er im ARD-Interview. Zu den Ablehnungsgründen im Einzelfall machte Bistumssprecher Neck gestern auf Anfrage der Neumarkter Nachrichten, zunächst, keine Angaben — mit Hinweis auf den zugesicherten Schutz der Opfer.

Domspatzen: Sexueller Missbrauch wird neu aufgerollt

© Christian Biersack

Dann ging der Neumarkter Rechtsanwalt Geedo Paprotta am gestrigen Nachmittag in die Offensive. Der externe Rechtsberater des Bistums hat zwar bis dato etwa zwei Dutzend Missbrauchsfälle im Auftrag des Diözese bearbeitet, war aber bisher mit dem Fall Georg Auer überhaupt nicht befasst gewesen. Weil er sich durch den ARD-Beitrag in einem „völlig falschen Licht“ dargestellt sieht, ergriff er gestern vor dem Hintergrund der laufenden NN-Recherchen die Initiative und sichtete alle Aussagen von Georg Auer in den Akten und im TV-Interview.

Angesichts der Schilderungen des Opfers sei die „Nichtanerkennung als sexuelles Missbrauchsopfer nicht nachvollziehbar“, sagte Paprotta den NN. Im Auftrag des Bistums teilte er mit, dass die „Akte erneut geöffnet“ werde. Der Missbrauchsbeauftragte des Bistums, Martin Linder, werde sich des Falles annehmen und den Kontakt mit dem Betroffenen suchen.

Bistumssprecher Clemens Neck bestätigte, es gebe „neue Vorwürfe“, die bisher gegenüber dem Bistum nicht geäußert worden seien. Der Fall Auer werde „neu betrachtet“. Er appellierte an Geschädigte, sich beim Missbrauchsbeauftragten des Bistums zu melden.

Den kompletten ARD-Beitrag "Sünden an den Sängerknaben" hier anschauen

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