KZ-Häftling gelang am Habsberg die Flucht

5.3.2015, 16:00 Uhr
KZ-Häftling gelang am Habsberg die Flucht

© Horst M. Auer

Vier Kolonnen mit 2103 Menschen erreichten bis zum 26. April das KZ Dachau. Die fünfte Kolonne wurde in Schmidmühlen von den Amerikanern befreit. Die Zahl der auf dem Todesmarsch an Erschöpfung gestorbenen oder ermordeten Häftlinge wird auf rund 500 geschätzt.

Bei einem Vortrag von Matthias Rittner über das KZ im März im Pfarrheim St. Raphael in Lauterhofen kamen auch einheimische Augenzeugen zu Wort, die den Todesmarsch damals mitbekommen haben.

Die wenigen Häftlinge, die den Marsch überlebten, sind heute schon fast alle gestorben. Einige haben aber ihre Erinnerungen noch auf Papier gebracht. Zum Beispiel der vor wenigen Jahren verstorbene Alfred Nerlich: Er hat seine Leidenszeit als KZ-Häftling in Hersbruck schon kurz nach Kriegsende auf zehn Seiten niedergeschrieben.

Darin schildert Nerlich auch detailliert die Evakuierung des KZ vor den heranrückenden Amerikanern Mitte April 1945 und seinen Marsch über Lauterhofen bis zum Habsberg bei Velburg, wo ihm die Flucht gelang. Was ungewöhnlich war: Nerlich schleppt sich unter großen Mühen und Gefahren zurück nach Hersbruck, dem Ort seiner Leiden. Wo er bis ins hohe Alter lebte.

Doch wohin sonst sollte er gehen? Der Rückweg in seine alte Heimat im deutsch-polnischen Grenzgebiet war Alfred Nerlich nach Kriegsende versperrt. Zudem konnte er in Hersbruck bei der Familie eines Schreinermeisters Unterschlupf finden, die peppelte den halbverhungerten Flüchtling wieder auf.

KZ-Häftling gelang am Habsberg die Flucht

© Dokumentationsstätte KZ Hersbruck



Im Zuge eines Attentats auf einen NS-Diplomaten in Paris war der daran völlig unbeteiligte Nerlich festgenommen worden. Sein Name war irgendwie auf die Fahndungsliste gekommen. Über die KZ Groß Rosen (Schlesien) und Flossenbürg gelangte der Häftling ins Außenlager Hersbruck, wo er in den Stollen des Doggerwerks bei Happurg schuften musste.

Als im April 1945 die U.S. Army von Westen auf die Oberpfalz vorrückte, wurde das Hersbrucker Lager geräumt. In einer der letzten Kolonnen wurde Alfred Nerlich am 13. April auf den "Todesmarsch" geschickt. Über Alfeld und Lauterhofen sollten die vom Lagerleben schwer gezeichneten Insassen nach Flossenbürg laufen. Immer wieder Schüsse am Ende der Kolonne: Wer nicht mehr konnte oder wollte, wurde von den Wachmänner liquidiert.

Der Häftlingszug kommt durch Lauterhofen und verlässt den Ort in nördlicher Richtung. Im kleinen Dorf Brunn wird vor einer großen Scheune Halt gemacht: "Es erfolgten ein Appell und eine Zählung der Häftlinge (die Erschossenen wurden abgerechnet), dann eine Ruhepause. (...) Als Abendbrot bekamen wir einen halben Liter Suppe, das Brot (250 Gramm) war bereits am Tag zuvor ausgegeben worden."

In Scheune gepfercht

Dann werden die Häftlinge in der Scheune zur Nachtruhe zusammengepfercht, das Tor wird abgesperrt. Am Morgen darauf beobachten die Gefangenen von einem Berghang aus einen amerikanischen Tiefflieger-Angriff im Abschnitt Lauterhofen-Alfeld. Die Leitung der Kolonne gibt den Plan, Flossenbürg anzusteuern, auf, die neue Route geht zunächst nach Süden.

"Nach etwa acht bis zehn Kilometer Marsch wurden wir Häftlinge auf einen Berg mit einer Kapelle (Habsberg) gebracht (die Kirche war gut erhalten). Das Bergplateau war mit Gras und jungen grünen Büschen bewachsen, auf dem wir uns zusammen mit der Wachmannschaft niederließen."

Marschführer und Mannschaft quartieren sich am späten Nachmittag in der Kapelle ein. Hinter dem Rücken eines in der warmen Frühlingssonne dösenden Wachpostens stößt Alfred Nerlich zu einer Gruppe Häftlinge, die über eine Flucht in den nahen Hochwald diskutieren. "Ich winkte ab, ich wollte nicht mit einer so großen Gruppe gehen, denn ich wusste, dass man eine furchtbare Tortur und die Liquidierung in Kauf nahm, falls man nicht durchkam."

Ohne ihn verschwinden die acht Männer im Wald. Später sollte Nerlich erfahren, dass alle durchkommen, wenn auch unter größten Schwierigkeiten: Bis Neumarkt brauchen sie ganze vier Tage.

"Ich rannte los"

Nerlich seinerseits wartet noch ab, lauscht, sieht sich um. Alles ruhig. Dann schleicht er behutsam durchs Gebüsch, dem Waldsaum entgegen: »Nach etwa 100 Meter rannte ich los, in entgegengesetzter Richtung zur Kapelle, bis zu einer Felspartie, dann rechts in den schon erwähnten Hochwald in Richtung Westen. Ich überquerte die von Lauterhofen kommende Straße und lief, so schnell ich konnte, immer in westlicher Richtung, bis ich auf einem Berg ankam.« Im Fichtendickicht, zugedeckt mit seinem Tuchmantel, verbringt Nerlich die Nacht.

Am Morgen wendet sich der Flüchtende gen Norden, bewegt sich vorsichtig durch den Wald nahe der Straße. Ohne Verpflegung und völlig ortsunkundig. Er umgeht im großen Bogen einen Beobachtungsstand der Wehrmacht und gelangt in den Grafenbucher Forst. Hier hört er Schüsse, verkriecht sich im Gebüsch und beobachtet eine Gruppe Uniformierter, 40 bis 50 junge Burschen, 16 oder 17 Jahre alt. Weiter nördlich, in der Nähe Alfelds, schläft der ausgelaugte Nerlich ein.

Eine Stimme schreckt ihn auf: "Heda, wo kommst du her?" Nerlich erwidert, er käme von Neumarkt. Doch der Mann erkennt die Nummerierung auf der Jacke. Und erklärt, er gehe schnell etwas zu essen holen. Denkste, der Einheimische kehrt mit zwei Kumpanen und Karabinern zurück. Doch das Kopfgeld entgeht den Häschern diesmal: "Ich lief auf und davon, in die Richtung, aus der ich gekommen war, die blauen Bohnen um die Ohren pfeifend, den Einschlag hörte ich vor Schrecken gar nicht mehr."

Hier geht es zur Homepage des Vereins Dokumentationsstätte KZ Hersbruck.

Bohrender Hunger

Nerlich umgeht seine Verfolger, er läuft wieder nordwärts, Tag und Nacht. Er plündert ein Amselnest, doch die Eier waren bereits bebrütet und somit ungenießbar. Bei Thalheim läuft er dann auf einer Lichtung drei Uniformierten mit Hakenkreuzbinden in die Arme. Hinter ihnen betreten zwei Wehrmachtssoldaten mit Maschinenpistolen die Fläche.

Instinktiv springt Nerlich über den Ansatz des nahen Berghangs ins Gebüsch, ins Ungewisse. Er landet auf den Füßen und läuft in Panik bergab. Hinter sich hört er einen Ruf: "Lasst ihn laufen, es ist ein Franzose." - "Ich hatte das Gefühl, dass die zwei jungen Uniformierten (wegen ihrer NS-Erziehung) gerne einem Hasen den Garaus gemacht hätten." Doch es fällt kein einziger Schuss.

Über Happurg erreicht der halbverhungerte 33-Jährige den Ortsrand von Hersbruck. An einem Bahnübergang greift ihn ein amerikanscher Posten auf. Nerlich muss in einem nahen Haus übernachten, zu kauen gibt es auch hier erstmal nichts. "Am nächsten Morgen weckte mich ein Soldat, indem er sagte: ‚Six o'clock, aufwachen! Du bist frei und kannst gehen. Es war der 18. April 1945. Er gab mir eine Packung Kekse."
 

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