Nach Behörden-Streit: Jugendlicher und Pflegeeltern wieder vereint

7.9.2020, 05:43 Uhr
Antje und Dieter Wick und ihr Pflegesohn Siegfried Krebs haben zusammen viel durchgemacht.

© Michael Kasperowitsch Antje und Dieter Wick und ihr Pflegesohn Siegfried Krebs haben zusammen viel durchgemacht.

Solche Klagen von Jugendlichen über elterliche Vorschriften und Regeln sind keine große Seltenheit: Im Haushalt mitzuarbeiten kann schon mal wie eine an Ausbeutung grenzende Pflicht aufgefasst werden, auch wenn es sich etwa nur um wöchentliches Staubsaugen handelt. Höchst selten ist es allerdings, dass sich Heranwachsende in solchen Situationen spielend gegen ihre Eltern behaupten können. Siegfried Krebs hatte diese Möglichkeit. Und welcher Jugendlicher würde sie nicht nutzen, wenn ein Anruf genügt?

Schon als Zehnjähriger zog Siegfried Krebs 2012 auf Vermittlung des Laufer Landratsamtes als Pflegekind zu den in Burgthann (Kreis Nürnberger Land) lebenden Eheleuten Antje und Dieter Wick. Der Junge kam aus sehr belastenden und traumatisierenden Lebensverhältnissen dorthin: Er war zuvor weitgehend auf sich gestellt gewesen und hatte seine sieche Mutter eines Tages tot in der Wohnung gefunden. Der Vater ist unbekannt. Bei den Wicks kam er schließlich in ein wohlbestelltes Umfeld ihn umsorgender Erwachsener.

Was dem Paar aber nicht klar war: Der Junge lebt zwar bei ihnen und sie kümmern sich aufopferungsvoll "in Vollzeitpflege", so der Bescheid, um sein Wohlergehen. Sie tun das allerdings mit begrenzten Entscheidungsbefugnissen. Amtsvormund und Personensorgeberechtigter, wie es amtlich heißt, ist nämlich ein Mitarbeiter des Kreisjugendamtes in Lauf.

Er bestimmt, was mit dem Jungen geschieht und wo er lebt. Und an ihn wandte sich der seinerzeit 16-jährige Siegfried mit der Ansage, er wolle nicht mehr bei seiner Pflegefamilie bleiben. Anlass war ein harmloser Alltagskonflikt um die Teilnahme an einer lange geplanten Familienfeier.

Fatale Folgen

Der Vormund kam der Bitte des Jungen offenkundig ohne große Nach- und Rückfrage umgehend nach, mit fatalen Folgen für den Jugendlichen. Monatelang lebte Siegfried danach als Obdachloser auf den Straßen Nürnbergs und kam in Kontakt mit harten Drogen. Und das unter den Augen der Verantwortlichen in der Laufer Behörde.

Aus den umfangreichen Akten geht hervor, dass der amtliche Vormund für Siegfried das "Pflegeverhältnis" kurzerhand für beendet erklärte und zunächst "die Beurlaubung bei seinem Bruder" verlängerte, wie es in einem Behördenbrief steht. Dabei handelt es sich um einen jungen Mann, der zu diesem Zeitpunkt selbst in allem anderen als in gesicherten Umständen lebte. Schließlich wurde Siegfried in der offenen Wohngruppe "Luise" in Nürnberg untergebracht, wo das Fachpersonal aber nicht in der Lage war, den Drogenkonsum der Jugendlichen zu unterbinden. Im Falle von Siegfried sah es am Ende nur die Möglichkeit, ihn wegen seiner mehrfachen Regelverstöße vor die Tür zu setzen. Auf der Straße schlug er sich dann einige Monate alleine durch.

Beschwerde bei der Regierung

Antje und Dieter Wick haben in ihrem Engagement nie nachgelassen. Siegfried war ihnen in all der Zeit, die das Paar mit ihm unter einem Dach verbrachte, ans Herz gewachsen. Nach langen Debatten mit dem Amt sah es keine andere Möglichkeit, als sich bei vorgesetzten Stellen zu beschweren, und zwar bei der Regierung von Mittelfranken.


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Die teilte den Eheleuten am Ende in einem Schreiben vom Mai mit, dass die Einrichtung "Luise" bereits seit einem Jahr geschlossen sei. "Ein aufsichtliches Einschreiten erübrigt sich daher." Was zuvor geschehen war und welche Konsequenzen daraus zu ziehen wären, kümmerte die Ansbacher Behörde offenkundig nicht. Über die Obdachlosigkeit des Jugendlichen verliert die Regierung kein Wort.

Das Landratsamt wehrt sich gegen den Vorwurf, untätig gewesen zu sein. Es habe mehrere Gesprächsangebote an die Pflegeeltern gegeben, die aber ignoriert worden seien, heißt es auf Anfrage der Nürnberger Nachrichten. Die Akten und Aktivitäten beider Seiten stützen das nicht unbedingt. "Das Jugendamt zwingt Jugendliche natürlich nicht, in die Familie zurückzukehren", so die Behörde.

Angebote zur freien Entscheidung

Zudem habe man Siegfried Krebs stets Angebote zu Unterbringung, Versorgung, Hilfe, Bildung und Erziehung unterbreitet, "die er jederzeit hätte annehmen können". Sich darauf einzulassen, sei allerdings seine freie Entscheidung.

Für eine Zwangsunterbringung sei "Drogenkonsum, wie er unter Jugendlichen häufiger vorkommt, in der Regel kein ausreichender Grund", stellt das Landratsamt heute fest. Man könne Jugendliche nur immer motivieren, sich wieder in ein soziales System zu begeben. "Das gelingt leider nicht immer." Mehr könne und dürfe man auch zu diesem Fall nicht sagen. Dafür reden andere.

Das tut zum Beispiel Marion Wölfel, eine Therapeutin aus Schwanstetten (Kreis Roth), die Antje und Dieter Wick auf eigene Initiative und Kosten zur Selbstkontrolle um Rat in Erziehungsfragen gebeten hatten. Ihnen war klar, dass sie mit Siegfried eine schwere Aufgabe vor sich haben. Sie wollten nichts verkehrt machen. Wölfel spricht von einem "außergewöhnlich hohen Engagement" der Eheleute mit "gutem ethischem Hintergrund und großer Empathie".

"Fachlich fatal" und "höchst inkompetent"

Sie war auch bei mehreren Gesprächen mit Vertretern des Landratsamtes unterstützend dabei, die angeblich nicht stattgefunden hatten, wie die Kreisbehörde mitteilte. Wölfel nennt deren Vorgehen "fachlich fatal, eine ganz fürchterliche Geschichte", die weder der schwierigen Vorgeschichte des Jungen noch den Pflegeeltern gerecht werde.

Um das Kindeswohl jedenfalls, das nach den Vorschriften bei allen Maßnahmen im Vordergrund steht, sei es in diesem Fall wohl am wenigsten gegangen. Die Motive für die Entscheidungen des Laufer Amtsvormunds liegen für Wölfel "im Dunkeln".


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Ähnlich sieht das Lothar Kremer, ein Diplom-Sozialpädagoge und Coach aus Berlin, der als Fachmann für diesen Teil des Sozialrechts gilt, und den die Wicks in ihrer Not auf Empfehlung ebenfalls von sich aus eingeschaltet hatten. Er ist mit dem Fall vertraut. Kremer nennt das Vorgehen des Jugendamts im Nürnberger Land "höchst inkompetent".

Der Behörde sei es offensichtlich um eine reine "Machtdemonstration" und nicht um professionelle Hilfe gegangen. Statt Unterstützung zum Kindeswohl zu leisten, sei die Herausnahme des Pflegekindes "in rigider Weise" betrieben worden.

Dieter Wick zieht heute eine ernüchternde Bilanz: "Hätten wir gewusst, dass wir als Pflegeeltern nicht auch Vormund sind, wären wir dieses Wagnis wohl nicht eingegangen." Er frage sich, wie der Staat solche Vorgänge hinnehmen könne. "Das ist schwer zu akzeptieren."

Amtsvormundschaft endete mit Volljährigkeit

Seine Frau antwortet auf die Frage, warum sich das Paar diese viele Monate andauernden Konflikte mit den Behörden angetan hat: "Über die Jahre ist zu Siegfried eine tiefere Bindung gewachsen. Wir sehen seinen guten Kern." Im Laufer Jugendamt hat man den offenbar weniger erkannt.

"Ich musste mir von meinem Vormund anhören, ich sei ein hoffnungsloser Fall", erzählt Siegfried Krebs auf der schattigen Terrasse des Hauses der Wicks, und er wird drastisch: "Einen Scheiß hat der sich für mich interessiert." Er ist gerade volljährig geworden. Damit endete auch die Amtsvormundschaft. Und er ist wieder zu den Wicks zurückgekehrt. Er spricht ganz selbstverständlich von seinen "Eltern" und von "Papa und Mama".


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Es habe in der Vergangenheit schon mal gekracht zwischen ihm und seinen Pflegeeltern, bekennt er. "Ich fühlte mich immer wieder mal in meiner Freiheit eingeschränkt." In einer solchen Situationen habe er sich an seinen Amtsvormund gewandt, um eine "Auszeit" von der Familie zu nehmen. Der sei ihm dann ohne Weiteres zugestanden worden. Was daraus dann in der Folge geworden sei, habe er in keiner Weise gewollt, betont Siegfried Krebs im Rückblick. Drei Lehrstellen hatte er abgebrochen, als er noch unter amtlicher Betreuung stand, jetzt will er Altenpfleger werden. Er wirkt heute sehr zielstrebig.

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