16. Juli 1969: Mondflug hält die Stadt in Spannung

16.7.2019, 07:00 Uhr
16. Juli 1969: Mondflug hält die Stadt in Spannung

© NN

Was mindestens einer Millionen Touristen am Mondbahnhof Kap Kennedy, also an Ort und Stelle, recht ist, sollte der übrigen Weltbevölkerung im allgemeinen, den Nürnbergern im speziellen "live" und billig sein:

Es ist auf die Sekunde genau 14.32 Uhr MEZ. "Three – two – one – zero!" Jubelschreie, rasendes Händeklatschen braust aus den Fernsehlautsprechern der Geschäftspassagen über die Köpfe Hunderter von Zuschauern hinweg. Die Nürnberger in ihrer Eigenschaft als typentreue Deutsche starren schweigend, andächtig, mit gIänzenden Augen und ergriffener Miene auf die flimmernden Mattscheiben.

30 Stunden "Live" im Amerikahaus

Die Fernsehfachgeschäfte erlebten einen Ansturm wie nie. Allein in der Passage des Delphi-Kinopalastes liefen 100 Apparate. Kopf an Kopf verfolgten die staunenden Nürnberger vor den Schaufenstern und im ersten Stock den Count-Down. Schon Wochen vorher hatten unzählige Firmen teilweise bis zu zehn Leihgeräte angefordert.

Viele Unternehmen drückten dann auch in puncto Arbeitsdisziplin ein Auge zu und gewährten ihrem Personal verlängerte Mittagspausen. "Das ist einmalig": ein Fernsehfachgeschäft öffnet um Montag, dem Tag der Landung, schon um sechs Uhr seine Pforten. Auch das Amerikahaus läßt die über 30 Stunden Live-Übertragung mit allen Einzelheiten nicht nur in eigenem, sondern auch im Interesse der Öffentlichkeit über zwei Mattscheiben flimmern. Sogar am Sonntagabend wird es seine Türen für Schaulustige weit offen halten.

Mit einer Mischung aus Nationalstolz und Nervosität verfolgten die zivilamerikanischen "Nürnberger" den Griff ihrer Landsleute nach den Sternen. Stellvertretend für die über 10.000 Amerikaner in unserer Stadt versuchte sich der Direktor des Amerika-Hauses, Dean O. Claussen, an einer Analyse der amerikanisch-deutschen Startstimmung: "Bei Ereignissen dieser Art können und wollen wir nur als Nationalisten auftreten – sorry! Wir gehen mit Stolz an die Sache heran, drücken den dreien da oben den Daunen und wünschen uns alles Gute." Daß das deutsche Interesse an der großen Stunde der USA so stark ist, überraschte den Patrioten Claussen. "Unser Informationsprogramm, die Filmvorführungen und Referate zum Thema Apollo 11 waren erstaunlich gut besucht."

Freilich, einige Nürnberger scheinen den Apparat zu einer ureigenen deutschen Sache machen zu wollen. So fand der städtische Beamte F. S.: "Es war vorauszusehen, daß alles reibungslos klappt. Rußland und Amerika, die sich seit Jahrzehnten mit der Weltraumfahrt befassen, haben sich die besten Forscher gehascht. Ich darf ohne Übertreibung sagen, daß Wernher von Braun ein deutsches Genie ist. Hoffentlich kommen die Lunauten gesund zurück." Der Empfangschef des American-Bavarian-Hotel, der Norddeutsche Oscar P., ließ sich sogar zu einem Tadel an seinen US-Gästen hinreißen: "Stillschweigend saßen nur zehn der knapp 200 Hotelbewohner vor dem Fernsehapparat. Kein spontaner Jubel klang auf. Als Kennedy ermordet wurde, fragten die Leute nach der nächsten Bar. Dieses Mal Totenstille. Ich als Deutscher freue mich jedenfalls riesig über das Apollo-Projekt."

In Nürnbergs Schulen drängten Zeugnisangst und Ferienfreude das große Ereignis in den Hintergrund, "Wir sind so sehr mit Abschlußfeiern und Notenschreiben, mit Schulschluß und Sportfesten beschäftigt", entschuldigte Dr. Johann Böhm, Direktor des Labenwolf-Gymnasiums, "daß wir das Thema Mondflug erst in den nächsten Schulplan aufnehmen. Studientage und Diskussionen stehen auf dem Programm, und ich könnte mir denken, daß jeder Lehrer diesen Stoff irgendwie verwerten wird. Das Kapitel Schwerkraft zum Beispiel in Physik, die Mondlandschaft aus Ton im Werkunterricht, lunare Zukunftsprognosen als Aufsatzthema für die Deutschstunde und so weiter." Zur Frage Aufsatzthema über den Apollo-Start konnte sich Schuldirektor Kurt Gemählich allerdings ein "Da sei Gott vor, die armen Kinder!" nicht verkneifen…

Kein Unterricht, aber Fernsehen

Schüler und Schülerinnen, die gehofft hatten, mit dem historischen Ereignis einige Unterrichtsminuten herausschinden zu können, werden dennoch reichlich entschädigt. Das Kultusministerium gab offiziell die Erlaubnis zu inoffiziellem Schulfrei am 21. Juli, wenn Neil Armstrong als erster einen menschlichen linken Fuß auf den Erdtrabanten stellt. Für alle Schulen, die kein eigenes Fernsehgerät besitzen, für alle Kinder, die im TV-Raum keinen Platz mehr finden, gilt unterrichtsfrei.

Die Sternwarte – man möchte es kaum glauben – steht dem Apollo-Flug machtlos vis-à-vis. Auf der ganzen Welt, so tröstet sie sich, gibt es kein Fernrohr, das groß genug wäre, den Spaziergang der ersten Menschen auf dem Mond direkt beobachten zu können. Die große Stunde der Sternwarte schlägt erst am Dienstag und Freitag nächster Woche: nach Einbruch der Dunkelheit können sich die Nürnberger den Landeplatz auf dem Mond mit allen Einzelheiten per Fernrohr in Sichtweite "heranholen".

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