20 Jahre Bundestag: Dagmar Wöhrl denkt nicht ans Aufhören

16.11.2014, 06:00 Uhr
20 Jahre Bundestag: Dagmar Wöhrl denkt nicht ans Aufhören

© Stefan Hippel

"Hier oben war ich noch nie", sagt Dagmar Wöhrl und blickt durch die Panoramascheibe des Restaurants hinunter auf das Rollfeld. Sie kann es selbst kaum glauben, schließlich verbringt sie viel Zeit in den polierten Gängen des Nürnberger Flughafens. Es ist neun Uhr, ein wolkenverhangener Novembermorgen. Wöhrls Laune tut das trostlose Wetter keinen Abbruch. Die Energie der 60-Jährigen flutet den Raum. Wöhrl bestellt Wasser, Cappuccino. 9 Uhr ist fast schon ausschlafen. "Normalerweise nehme ich die Frühmaschine um 6.30 Uhr."

Genau 20 Jahre ist es her, dass sich Dagmar Wöhrl zum ersten Mal aufmachte in Richtung Bundestag, der damals noch in Bonn residierte. Oscar Schneider schied aus, Wöhrl rückte nach. Wo genau sie eigentlich hin musste, wusste sie nicht. "Ich war noch nie in Bonn gewesen. Ich bekam das Ticket zugeschickt und wusste nur, wann ich mich einzufinden hatte." Kollege und Studienfreund Christian Schmidt - heute Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft - half aus: "Er hat mich unter seine Fittiche genommen, ganz nach dem Motto: Du kommst jetzt mal mit!"

Mit lediglich vier Jahren Stadtratsarbeit auf dem politischen Buckel war sie ein Neuling. Den Ruf der Politik hätte Wöhrl beinahe überhört. Buchstäblich. "Als jemand bei mir in der Kanzlei anrief, um zu fragen, ob ich für den Stadtrat kandidieren möchte, dachte ich an einen Scherz", erinnert sie sich. Erst beim zweiten Anruf horchte sie auf.

Für die ersten hochgezogenen Augenbrauen sorgte sie bereits, noch bevor sie überhaupt einen Fuß in den Bundestag gesetzt hatte. Denn bevor es losging, sollte jeder Politiker parteiintern auf einem Zettel ankreuzen, in welchem Bereich er gerne tätig wäre. Wöhrl setzte ihr Kreuz bei Wirtschaftspolitik. "Am Anfang hieß es: Das geht nicht! Sie als Frau müssen doch in die Familienpolitik ..." Wöhrl lacht herzhaft, schiebt die Erinnerung aber beiseite.

Heute noch als Miss Germany bekannt

An diese Art von Kommentaren hat sie sich gewöhnt, auch wenn heute "alles ganz anders" ist, wie sie sagt, und Männer in Familienausschüssen ebenso vertreten sind wie Frauen in der Wirtschaftspolitik. „Es war für mich zunächst sehr ungewohnt, nicht nach meiner Leistung beurteilt zu werden“, erinnert sich Wöhrl. Sie, die Volljuristin mit Prädikats-Examen, das „irgendwie keinen interessiert“. Sie, die die Rechtsabteilung der Wöhrl-Unternehmensgruppe leitete. Die das Bundesverdienstkreuz tragen darf. "Ich werde heute noch als ehemalige Miss Germany vorgestellt. Das ist fast 40 Jahre her, was soll das denn?" Wöhrls Blick wird kurz prüfend, doch ihr Lächeln kehrt schnell zurück. Das sei ein Teil ihres Lebens. "Ich habe gelernt, damit umzugehen."

"Atypisch", so beschreibt Dagmar Wöhrl sich selbst. Immer wieder sah sie sich harter Kritik ausgesetzt. Diese zielte nicht immer nur auf ihre Arbeit ab. Zuletzt bemängelte der "Spiegel" Wöhrls Verhalten während einer Reise nach Laos. Die Vorsitzende des Entwicklungsausschusses soll lieber zum Handtaschen-Shopping gegangen sein, als Termine wahrzunehmen. Es folgten Richtigstellungen, Verdeutlichungen und insgesamt wenig schmeichelhafte Berichterstattung. "Die haben sich alle entschuldigt", platzt es förmlich aus ihr heraus. Die - damit sind die Journalisten gemeint. Die Situation sei falsch interpretiert worden. "Das lassen wir jetzt mal höflich so stehen. Und damit ist dann auch gut." Man kann ihr ansehen, dass diese Art von Grabenkampf viel Energie kostet. "Aber auch damit muss ich leben."

Verbiegen lassen will sie sich nicht. Um keinen Preis. "Muss ich auch nicht", sagt sie fast schon trotzig. Sie fränkelt mit Stolz, erst in Bonn, jetzt in Berlin. Sie lacht laut, wenn sie etwas lustig findet und ist eben "die Daggi", die sie schon immer war. "Ich finde es schön, wenn Leute zu mir sagen: Du hast dich gar nicht verändert. Noch schöner ist fast nur, wenn Leute sagen: Du bist ganz anders, als ich gedacht hatte."

Dagmar Wöhrl genießt den Kontakt mit Menschen. Sie sieht ihrem Gegenüber in die Augen, Handy und Armbanduhr würdigt sie keines Blickes, obwohl ihre Abflugzeit immer näher rückt. "Man darf nie den Bezug zur Basis verlieren. Das habe ich 20 Jahre lang nicht aus den Augen gelassen", sagt sie. Als eine der Ersten habe sie Bürgersprechstunden eingerichtet. An die erste kann sie sich genau erinnern. "Ich saß da und habe mich gefragt: Warum kommt denn keiner?" Lediglich zwei ältere Damen fanden den Weg in Wöhrls Büro. "Die eine hat sich darüber beschwert, dass die Stadt aufgehört hat, kostenlos Blutdruck zu messen. Die andere darüber, dass eine Ampel am Plärrer zu schnell umschaltet und sie nicht rechtzeitig über die Kreuzung kommt."

Es sind liebgewonnene Erinnerungen an fast ein Vierteljahrhundert in der Politik. Leicht war es nicht immer. "Die Abläufe in der Politik haben sich ungemein verändert. Früher wurde monatelang über neue Gesetze diskutiert, der ganze Prozess der Entscheidungsfindung verlief langsamer. Wenn eine Anfrage kam, hatte man einen Tag Zeit zu überlegen, was man antworten will. Heute hast du 15 Minuten." Die sozialen Medien haben ihren Anteil daran: "Der Kontakt über Facebook und Twitter ist manchmal sehr direkt. Du musst auch mal einen Shitstorm überstehen."

Politik machen heißt auch viele Kröten schlucken. "Klar ist, dass man bei vielen Entscheidungen sein Ja-Kärtchen einwirft, die einem nicht gefallen. Aber es geht um den Konsens." Am meisten ärgere sie sich, gibt sie zu, "wenn jemand fünf Jahre später kommt – und dann meine Meinung vertritt, von der er vorher nichts wissen wollte. Auf einmal habe ich dann doch recht gehabt."

Alles hinschmeißen wollte sie nur ein einziges Mal. "Damals", sagt sie, und dann schweigt sie lange. Damals, 2001, als ihr Sohn Emanuel infolge eines Unfalls starb und sich die Welt der Wöhrls nicht mehr drehen mochte. An vielen Tagen hat sie genug Kraft, um über diesen Schicksalsschlag zu sprechen. Über die Stiftung, die seinen Namen trägt und für Kinder kämpft, die sonst keine Chance hätten in diesem Leben. An diesem Tag reicht die Kraft nicht.

"Es gibt so viel, für das man noch kämpfen kann"

Wöhrl will lieber über ihre Arbeit reden. "Tierschutz ist klar", sagt sie. Doch auch die Arbeit im Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ist zur Herzensangelegenheit geworden. "Das hätte ich schon früher machen sollen", sagt Wöhrl. "Es nicht zu tun, war vielleicht der einzige Fehler der letzten 20 Jahre." Sie erzählt von den Reisen, dem Elend und dem aufbauenden Gefühl, etwas bewegen zu können: "Und die Kinder", Wöhrls grüne Augen glänzen wieder. "Wenn die auf einen zulaufen und lachen. Dieses Strahlen, dieses Positive..."

Ans Aufhören denkt Dagmar Wöhrl noch lange nicht: "Ich wüsste gar nicht, was ich mit einem freien Wochenende anfangen sollte", scherzt sie. Die Zeit wird langsam knapp, der Flieger ruft. "Mir macht es noch viel Freude, es sind spannende Zeiten. Es gibt so viel, für das man noch kämpfen kann. Und das bin ich: eine Kämpfernatur."

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