22. Juli 1969: Ein Meer der Ruhe

22.7.2019, 07:24 Uhr
22. Juli 1969: Ein Meer der Ruhe

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Der in letzter Minute um drei Stunden vorverlegte historische Augenblick dürfte manchen Nürnberger um die Chance gebracht haben, sich künftig unter die Frühaufsteher und die Zeugen der sensationellsten Original-Übertragung des Jahrzehnts rechnen zu dürfen. Doch wenn auch schätzungsweise die Hälfte der Bürger den weltbewegenden Fußtritt verschlief, die übermüdeten Gesichter am Montag morgen ließen erkennen, daß dennoch Zehntausende die Nacht vor dem Fernsehgerät verbracht hatten. Dunkle Ringe unter den Augen sprachen für sich und lieferten den Beweis: Nürnberg war noch nie so mondsüchtig wie gestern…

Das Mondfieber erreichte am Sonntagabend um 21.17 Uhr Nürnberger Zeit seinen ersten Höhepunkt. Zu Hunderten standen die Menschen vor den Fernsehgeräten, die in den Schaufenstern der Innenstadt flimmerten. Keiner wollte sich die Landung entgehen lassen. Die Zuschauermenge atmete auf, als Neil Armstrang nach Houston meldete: „Okay!“ Gegen 23 Uhr wurden die Mattscheiben finster. Die Geschäftswelt stellte sich auf einen heißen Morgen ein. Aber es kam anders. Der Geschäftsführer der Firma Radio-Adler hat sich schon zur Ruhe gelegt. Er will gerade den Miniatur-Fernseher auf seinem Nachttisch ausschalten, da fährt er wie elektrisiert hoch: „Ausstieg gegen 2 Uhr!“

22. Juli 1969: Ein Meer der Ruhe

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Er handelt blitzschnell. Minuten später laufen die Geräte in der Passage am Josephsplatz auf Hochtouren. Nach und nach finden sich etwa 50 Barbummler, Nachtschwärmer und Spaziergänger ein, beschaffen sich Stühle, Autositze, Bier und Zigaretten. Sie bereiten sich auf eine lange Nacht auf offener Straße vor. Trotz fortgeschrittener Stunde – es wird 1 Uhr, es wird 2 Uhr – verfolgen sie mit wachen Augen das Geschehen auf den insgesamt acht Bildschirmen.

Mittlerweile ist es 2.30 Uhr. Zum dritten Mal verkündet die Lautsprecherstimme, der Ausstieg stehe unmittelbar bevor. Einige Polizeibeamte unterbrechen ihren Streifengang in der sicheren Überzeugung: „Auch die Verbrecherwelt bestaunt den Mond ... Seit langem ist dies die ruhigste Nacht in Nürnberg.“

Gegen 3 Uhr weicht die Spannung der Ungeduld. Kommentar eines Zuschauers: „Die Lunauten würd' ich am liebsten auf den Mond schießen, wenn sie nicht schon oben wären!“ Gegenkommentar: „Das ist doch spannender als ein Krimi! Ich hoffe, daß ich auch bald rauffahren kann.“ Plötzlich herrscht. Totenstille. Es ist soweit: 3 Uhr 56 Minuten 20 Sekunden. Ein Jüngling drückt seiner Begleiterin noch schnell ein Küßchen auf die Wange. Dann hat die Liebe Sendepause …

Das gemeinsame Erlebnis dieser 50 Einzelgänger steht für die Spannung, die ganz Nürnberg eine Nacht lang in Atem hielt. Kein Feueralarm, kein Verkehrsunfall, kein Verbrechen ging in die Akten ein. Nur das Rote Kreuz wurde einige Male von Betrunkenen auf den Plan gerufen. Sogar den Taxifahrern war der Mond wichtiger als der „Mammon“.

Sturm auf Mondkarten

Unausgeschlafen, dafür aber mit einem neuen „Mondgefühl“ kehrten die Nürnberger am Montagmorgen in den grauen Alltag und – pünktlich – an ihren Arbeitsplatz zurück. Auch die Geschäfte in der Innenstadt erwachten planmäßig zu gewohntem Leben. Eine Ausnahme bildeten die Buchhandlungen. Besonders Mondkarten und zusammenklappbare Raketen fanden reißenden Absatz. Ebenso stark war das Interesse an der gängigen Mondliteratur und Raumfahrtbüchern. Die Vorbestellungen für Dokumentationen mit allen technischen Daten über den Mondflug häufen sich. Fachbücher sollen schon in den nächsten Tagen auf den Markt erscheinen.

Die ersten offiziellen Aussagen zum Unternehmen Apollo kamen aus kirchlichen Kreisen. Übereinstimmend erklärten die Dekane beider Konfessionen, der Katholik Paul Holzmann und der Protestant Fritz Kelber: „Das war eine großartige Leistung des menschlichen Geistes. Die Forschung erfüllt damit den Auftrag der Heiligen Schrift: macht euch nicht nur die Erde, sondern auch den Kosmos untertan.“ Gleichzeitig jedoch warnten sie vor Hybris und Übermut und verbanden mit dem geglückten Mondflug den Wunsch, er möge nicht neue Weltbrände entfachen, sondern einzig und allein dem Frieden dienen.

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