28. April 1965: Ratten als Spielzeug

28.4.2015, 07:00 Uhr
28. April 1965: Ratten als Spielzeug

© Launer

Mit einem Steinwurf wird das Tier verscheucht, doch schon hat Fritz eine andere Ratte entdeckt, mit der das Spiel wiederholt werden kann. Auf einem größeren privaten Grundstück mit einer großen Menge von Unrat und Abfällen direkt neben diesem Tummelplatz haben die Ratten ein geradezu ideales „Schongebiet“.

Das Grundstück grenzt an ein Erholungsgebiet für die Bürger der Stadt, einer „grünen Insel“, inmitten der Großstadt mit Ruhebänken, Spazierwegen und – einem Kinderspielplatz. Buben und Mädchen, auch Mütter mit Kleinkindern genießen hier gerade jetzt bei den ersten warmen Strahlen der Frühjahrssonne einige Stunden der Ruhe. Aber die Ratten erfreuen sich auch eines ungestörten Lebens. Um ihre Ernährung brauchen sie sich keine Sorgen zu machen: der Abfallhaufen wird ständig nachgefüllt.

28. April 1965: Ratten als Spielzeug

© Launer

Die Rattenplage hat, wie Verwaltungsoberinspektor Ludwig Berger vom Gesundheitsamt mitteilt, in Nürnberg in den letzten Jahren erheblich abgenommen. Dazu hat vor allem beigetragen, daß die Zahl der Ruinen und unbebauten Grundstücke immer geringer geworden ist. Dennoch muß die Stadt jährlich annähernd 5.000 DM aufwenden, um die Ratten zu bekämpfen. Etwa 90.000 Köder werden in jedem Herbst vor allem in den Abwasserkanälen ausgelegt, weil sich dort die Nagetiere ganz besonders gern aufhalten.

Trotzdem konnten in der letzten Zeit Passanten in fast allen Teilen der Stadt Ratten beobachten, an Straßenbahnhaltestellen, Mauern und vor allem an den Ufern der Gewässer. Gerade dort werden von Angestellten der Stadt Nürnberg auch besonders viele Köder ausgelegt, auch wenn die Hundebesitzer nur selten von den Warntafeln Kenntnis nehmen wollen. Schon oft ist anstelle einer Ratte ein Hund an diesen „Leckerbissen“ eingegangen.

Jährlich bis zu 500 Nachkommen

Doch die Ratten werden wohl nie restlos auszurotten sein. Das liegt vor allem an ihrer ungeheuer schnellen Ausbreitung und auch daran, daß selbst 50 Zentimeter dicke Betondecken von ihnen durchnagt werden. Ein einzige Ratte kann jährlich bis zu 500 Nachkommen haben: Durchgefressene Kanalisationsrohre sind für die Arbeiter der Stadt fast schon eine Alltagserscheinung. In der Bundesrepublik wird der Schaden durch Ratten auf jährlich mindestens 100 Millionen DM geschätzt. Madagaskar ist das einzige Gebiet der Erde, in dem diese außerordentlich zähen Schädlinge nicht zu Hause sind.

Nicht zuletzt deshalb sind alle Grundstückseigentümer durch die Gemeindeordnung verpflichtet, auf ihrem Boden die Ratten wirksam zu bekämpfen. Ebenso sind Schuttabladeplätze, als bevorzugte Aufenthaltsorte, auf privaten Grundstücken verboten. Die Eigentümerin des Grundstücks neben dem Kinderspielplatz, die selbst außerhalb von Nürnberg wohnt, hat dies offenbar noch nicht zur Kenntnis nehmen wollen. Sie hat das Grundstück an eine Baufirma verpachtet, die darauf ein Wohnlager für Gastarbeiter errichtete. Der Pächter hat zwar den Hof mehrmals gründlich gereinigt, den Schuttberg, den er mit übernommen hat, aber nicht beseitigt. Dazu ist er auch nicht verpflichtet.

Verhältnismäßig bedeutungslos ist der Sachschaden, den die Ratten verursachen. Bedrohlich sind sie vor allem für die Gesundheit des Menschen. Sie sind einer der zuverlässigsten Träger und Überträger gefährlicher Krankheiten. Als Kinderspielzeug sind sie deshalb in keiner Weise geeignet. Erst vor wenigen Wochen wurden beispielsweise auf dem Marktplatz in Ansbach und auch im Zentrum von Erlangen selbst erwachsene Personen von Ratten angefallen.

Das Gesundheitsamt hat es nicht immer leicht mit einer wirksamen Rattenbekämpfung, weil selbst die Gerichte manchmal nur wenig Einsicht zeigen. Schon im Juli 1963 wurde die Eigentümerin des Grundstückes neben dem Kinderspielplatz aufgefordert, den Schuttberg zu beseitigen. „Ich brauche nicht zu haften“, schrieb sie im Mai 1964 dem Gericht und forderte, „mit dieser Sache in Ruhe“ gelassen zu werden.

„In Ruhe“ wurden lediglich die Ratten gelassen. Im Juli 1964 wurde das Verfahren durch richterliche Verfügung „wegen Geringfügigkeit“ eingestellt. Im Januar 1965 erließ das Gesundheitsamt erneut eine Verfügung. Darauf antwortete die Grundstückseigentümerin unschuldsvoll, die Ratten kämen von der benachbarten städtischen Grünanlage auf ihr Grundstück.

Rattenplage – selten mitgeteilt

Die Besitzer von Grundstücken sind, wie beim Gesundheitsamt betont wird, zur Bekämpfung der Ratten im allgemeinen auch bereit. Wohnungsmieter teilen dem Gesundheitsamt dagegen nur verhältnismäßig selten eine Rattenplage mit. Wie weit bei der gegenwärtigen Wohnungsnot dafür andere Motive verantwortlich sind, läßt sich nur schwer feststellen. Viele Hauseigentümer meinen jedoch, daß der Besitz eines Hundes, der die Ratten „verjagen“ soll, bereits ausreichend ist. Der Grundsatz „Heiliger St. Florian verschon´ mein Haus, zünd´ andere an“, wird fragwürdig, wenn es um die Gesundheit geht. Eine größere Zahl von Ratten direkt neben einem Kinderspielplatz zu dulden und sogar zu fördern, sollte jedoch mit allen Mitteln verhindert werden.

Das Gesundheitsamt hat inzwischen zur Selbsthilfe gegriffen. Es ließ auf dem Privatgrundstück vor wenigen Tagen Gift auslegen, weil sich die Beschwerden auch der benachbarten Hausbewohner, die sich vor den Ratten in Kellern und selbst in Wohnungen nicht mehr retten konnten, zu sehr häuften. „Vorsicht Rattengift! Haltet Kinder fern!“ steht jetzt auf großen gelben Warntafeln neben dem Kinderspielplatz.

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