30. April 1971: Schule und die Anti-Babypille

30.4.2021, 07:00 Uhr
30. April 1971: Schule und die Anti-Babypille

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Die Gewählten haben wir bereits mit Namen vorgestellt. Gestern abend trafen sie im Jugendzentrum bereits mit Landtagsabgeordneten und Stadträten zusammen.

War die Zahl der Wähler schwach, so war der Wahlvorgang selbst, wie Jugendliche zu kommentieren pflegen, „stark“. Zum Beispiel im Wahlbezirk Nord, Messehalle. Nur der halbe Saal wurde voll. Aber die, die kamen, wollten keinen Stunk, sondern sachliche Auseinandersetzung. Niemand wurde ausgezischt, niedergeschrien. Jeder konnte das Wort ergreifen.

Vor der Halle verteilten Jugendliche eifrig Flugblätter. Einer war besonders fleißig. Auf seinen Flugblättern wurde der Jungen Union Manipulation vorgeworfen. Der Verteiler, Gerhard Ferling, war selbst Mitglied der Jungen Union. Er glaubte, daß solche Angriffe ihm nur nützen konnten – und er vereinigte später bei der Wahl die mit Abstand meisten Stimmen auf sich.

Offen und fair

In der Halle fanden sich 357 Wähler ein. 17 junge Herren und drei junge Damen kandidierten. Einzeln kletterten sie auf die Bühne und stellten sich vor. Fünf Minuten Redezeit. Dann konnten die Kandidaten vom Saalmikrofon aus getestet, irritiert und – auf faire Waise – in die Mangel genommen werden. Auf diese Weise übrigens versuchten alle Kandidaten, ihren Gegner auf der Bühne auszupunkten. Es ging erfrischend offen und fair zu.

Da standen ja nicht Kandidaten, wie sie die Erwachsenen vorgesetzt bekommen: aalglatt, um keine Antwort verlegen, geschickt ausweichend. Vielmehr standen da Jugendliche, mitunter stotternd, sich verhaspelnd, die keinen Versuch machten, dem Wähler nach dem Munde zu reden. Richtig wohltuend war‘s. Jugendfreizeitzentrum, Schulraumnot, Rauschgiftberatungsstellen, kostenlose Anti-Baby-Pillen für Mädchen, Resozialisierung jugendlicher Strafgefangener, Kindergärten. Hilfe für milieugeschädigte Kinder – das waren Probleme, mit denen sich die Jugend beschäftigte.

Man hielt über drei Stunden im Saale aus, und das ist sicher auch auf manch unfreiwillige Komik zurückzuführen. Eine Kandidatin forderte, die Altersbegrenzung bei Abendveranstaltungen herabzusetzen, denn „bei der Jugend beginnt ja das Alter schon viel früher“. Ein Kandidat forderte, die Polizei müsse mehr tun, um „die Leute zu ermitteln und zu beseitigen“, die Rauschgift vertreiben. Ein falscher Zungenschlag, aber sympathisch. Kurz vor dem Wahlakt meldete sich noch ein Kandidat namens Martin Blättner. „Ich bin frustriert“, erklärte er. Er selbst stelle sich zur Verfügung, weil alle Kandidaten ihn nicht befriedigten. Und er wurde gewählt.

Wo werden wir uns konstituieren? Welche Probleme können wir anpacken? Wie ernst wird uns der Stadtrat nehmen? Das waren die Hauptsorgen, die die 25 Jugendräte und ihre 25 Stellvertreter am Tag nach der Wahl im Jugendzentrum aussprachen. Es wird am Stadtrat liegen, ihnen unverzüglich einen Raum zur Verfügung zu stellen.

Der Jugendrat wird Zeit benötigen, sich erst einmal kennenzulernen und – wenn man so will – zusammenzuraufen. Der Anfang könnte morgen schon gemacht werden und sollte nicht erst des Startzeichens des Kultur- und Schulreferenten bedürfen. Der offizielle Antrittsbesuch beim Oberbürgermeister mit gesetzten Reden kommt noch früh genug.

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