75 Jahre NN: Gertrud Gerardi, Kronzeugin des Wiederaufbaus

3.6.2020, 17:54 Uhr
75 Jahre NN: Gertrud Gerardi, Kronzeugin des Wiederaufbaus

© Stadtarchiv Nürnberg, Sign. A68 22

Wann ist ein Pressefoto gut? Wann sogar preiswürdig? Und wann wird es ikonisch? Wir alle haben starke Bilder im Kopf, die historische Momente und Menschen bei jeder Betrachtung neu der Flüchtigkeit der Zeit entreißen.

Um 1950 wurde Gertrud Gerardi, die erst seit einem Jahr Pressefotografin bei den Nürnberger Nachrichten war, selbst zum Zeitenwende-Motiv: Breitbeinig und im praktischen, für Frauen damals aber noch total verpönten Hosenanzug steht die 35-jährige Bildberichterstatterin auf dem Dach eines in der Königstraße geparkten Opel. Von dort hat ihre Leica freie Sicht auf einen Umzug durch die nach dem Krieg noch immer lückenhaft-traurige Kulisse der Nürnberger Altstadt.

Prophetisch zeigt die Aufnahme, dass hier eine selbstbewusste weibliche Fotografin und eine "Kronzeugin des Wiederaufbaus" am Werk ist. Mit diesen Worten würdigte BR-Journalist Wolfgang Buhl 2002 Gerardi in seinem Nachruf zurecht für zehntausende Fotos, die sie in einem Vierteljahrhundert vom Wieder-Werden der zerstörten Stadt gemacht hatte. Im Internationalen Jahr der Frau 1975 wurde die Fotografin deshalb mit der Bürgermedaille geehrt.


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Wie aber wird man zum Gesicht einer Zeit und einer Zeitung, die selbst gerade erst ihren Platz in der vielfach verwundeten Stadt eingenommen hatte? 1999 offenbarte Gerardi in einem Interview mit Gaby Franger-Huhle für das erste Nürnberger Frauengeschichtsbuch, dass Gründungsverleger Joseph E. Drexel selbst sie und ihren späteren Mann Roland Buschmann nach Nürnberg geholt hatte: "Er wollte meinen Mann unbedingt für die Zeitung haben, weil er hatte keine Leute. So sind wir hierhergekommen."

Die 1914 in Münster geborene Westfälin war da bereits eine erfahrene Bildjournalistin. Nach dem Abitur in Unna hatte sie an der renommierten Bayerischen Staatslehranstalt für Lichtbildwesen gelernt, 1935 ihren Abschluss als Fotografin gemacht, um dann direkt an die Pressestelle der Hitlerjugend nach Stettin vermittelt zu werden. Nach einer Zwischenstation bei der NS-Volkswohlfahrt wurde sie 1938 von der Pommerschen Zeitung, mit Schriftleiter Buschmann an der Redaktionsspitze, fest angestellt – nach eigener Aussage als erste Pressefotografin Deutschlands.

Getrud Gerardi Fotografien sind Bildikonen der Nürnberger Stadtgeschichte.

Getrud Gerardi Fotografien sind Bildikonen der Nürnberger Stadtgeschichte. © e-arc-tmp_20190306-150122-004.jpg, NN

Ihre Eltern, Mutter Hausfrau und Malerin, Vater Beamter im Ruhestand und Hobbyfotograf, waren stolz auf die Fähigkeiten und die Selbständigkeit ihrer Tochter, die der Vater anfangs nur zögerlich gewährt hatte. Doch sie setzte sich durch, zu Hause und im Beruf, obwohl sie als Frau zunächst nicht zu allen Terminen zugelassen wurde: "Wie der Hitler damals gekommen ist", erinnerte sich Gerardi 1999 - "durfte ich nicht in Erscheinung treten. Der wollte nur Uniformen um sich sehen."


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Sie erkannte: Die Probleme einer Pressefotografin beschränkten sich nicht auf das Schleppen ihrer 25-Kilo-Fotoausrüstung. Im männlich dominierten Politik- und Wirtschafts-Umfeld waren Diskriminierung Zeit ihres Berufslebens an der Tagesordnung, auch nach Flucht und Neustart in Nürnberg. Dieser Herausforderung stellte sie sich im Stadtrat, in Fabriken und auf Baustellen konsequent und erfolgreich, ihrem Engagement für Nazi-Institutionen eher halbherzig: "Also ich war nicht besonders mutig. Das war ja so witzlos", so Gerardi auf Nachfrage von Gaby Franger-Huhle 1999.

Dass ausgerechnet der im Widerstand aktive Drexel das Team Buschmann/Gerardi 1948 nach Nürnberg geholt und im Jahr darauf zum Chefredakteur beziehungsweise zur Leiterin seiner Bildredaktion gemacht hat, verwundert. Dass von beiden dann manches im Dienst der NS-Diktatur entwickelte journalistische Erfolgsrezept, darunter auch der bewusste Einsatz vieler Bilder, dem demokratischen Neubeginn in Franken zugutekam, dürfte allerdings ganz in seinem Sinn gewesen sein.

Gerardi lieferte seitdem mit drei männlichen Mitarbeitern jeden Tag unzählige Fotos, die dazu beitrugen, die Nürnberger Nachrichten zum bildstärksten Blatt der jungen Bundesrepublik zu machen. Drexel hob deshalb "ihren ausgezeichneten Blick als Fotografin und ihren Sinn für dramatische Vorgänge und gute Bildausschnitte" hervor, vor allem aber ihre Kontaktfreudigkeit. Denn trotz ihres westfälischen Zungenschlags kam ihre direkte, aber immer auf Augenhöhe bedachte Art bei den Bauern im Knoblauchsland genauso gut an wie beim späteren SPD-Kanzler Willy Brand oder den vielen Prominenten, die 1971 im Dürerjahr die Stadt besuchten.

Gerardi, die bis ins hohe Alter die Welt bereiste, durchquerte aber auch die Region, um für die "Sonntagspost" der NN in ungewohnt großformatigen Fotos Land und Leuten, Kunst und Kirchen ein Gesicht zu geben. "Da haben die Nürnberger erst mal ihr Franken kennengelernt, haben sie immer zu mir gesagt," so Gerardi in der Rückschau.


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Der 2018 verstorbene NN-Verleger Bruno Schnell erkannte bald nach seinem Eintritt ins Unternehmen das Potential ihrer wunderbaren "Bilder aus Franken" und verwirklichte 1960 eine Veröffentlichung unter diesem Titel.

"Ich hab ja irrsinnig viel fotografiert", erinnerte sich Gerardi an die Zeitungszeit. "Und auch immer so mit Leidenschaft. Heute machen sie ihren Job. Wir damals haben unseren Beruf gemacht. Redaktionsschluss war viel später als heute. Wir sind abends noch auf Veranstaltungen. Und wenn da morgens um 2 oder 3 Uhr das Foto fertig entwickelt und abgezogen war, ist das ja noch in die Zeitung gekommen!"

Den Einsatz seiner stadtbekannten Fotografin würdigte Drexel bei ihrem Wechsel zur Stadtbildstelle 1968 dementsprechend gebührend: "Sie hat niemals irgendeine Mühe gescheut, um zu fesselnden und originellen Aufnahmen zu kommen." Auch deshalb sind Gerardis Bildikonen der Stadtgeschichte, die im Stadtarchiv und im Pressearchiv der Nürnberger Nachrichten aufbewahrt werden, für Ausstellungen und Bücher heute noch gefragt.

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