8. August 1968: Erste Reaktion: „Pfui“

8.8.2018, 07:00 Uhr
8. August 1968: Erste Reaktion: „Pfui“

© Kammler

Die Nürnberger machen einen weiten Bogen um Zeitungen aus der Deutschen Demokratischen Republik.

Diese Erfahrung haben zwei NN-Redakteure einen Nachmittag lang am eigenen Leib gespürt, als sie vor dem Hauptbahnhof und mitten in der belebten Innenstadt das "Neue Deutschland" wie saures Bier zum Verkauf anboten. Das Gros der Passanten würdigte die SED-Postille keines Blickes und nur gelegentlich interessierten sich ein paar Studenten und Arbeiter für das 15-Pfennig-Blatt, das seit dem 1. August straffrei in der Bundesrepublik vertrieben werden darf.

Aber seit dieser Zelt verfahren die Machthaber in Ostberlin mit ihren Druckerzeugnissen genauso wie mit ihren Bewohnern: DDR-Zeitungen ist der Weg über die Stacheldrahtgrenze versperrt. Deshalb müssen Händler und Kioskbesitzer in der Stadt bedauernd die Achseln zucken, wenn Kunden vorsichtig nach DDR-Publikationen fragen.

Um trotzdem die Nachfrage nach solchen Organen testen zu können, haben wir die Probe aufs Exempel gemacht, einen Stapel „Neues Deuschland“ aus dem Archiv unter den Arm geklemmt und sind losgezogen – begleitet von einem Fotografen, der in diskreter Entfernung die Situation mit der Kamera beobachtete. Vor dem Mitteleingang des Hauptbahnhofs bezogen wir unseren Posten: Eln Blick auf die Uhr: es ist Glockenschlag 12; das Unternehmen "DDR-Zeitung" kann beginnen . . .

8. August 1968: Erste Reaktion: „Pfui“

© Kammler

Ungläubig starren uns die Menschen an, die von den Zügen oder aus dem Fußgängertunnel strömen. Kein Wunder, denn es kann nicht wie Balsam in ihren Ohren klingen: „Die aktuelle Tageszeitung aus der DDR... Revanchisten in Bonn werden immer frecher... 3000 Strafverfahren gegen Dernokra- ten in Westberlin... Manöver „Schwarzer Löwe“ findet doch statt...“ Solche Schlagzeilen verfehlen nicht ihre Wirkung. Instinktiv schlagen Männer und Frauen eine andere Richtung ein oder laufen wie eine Katze um den heißen Brei.

Wortlos hasten die Passanten vorbei – bis auf einen etwa 35jährigen, der aus seinem Herzen keine Mördergrube macht und uns respektlos ins Gesicht schleudert: „Pfui! Schämen Sie sich, so etwas anzubieten.“ Wir geben jedoch nicht auf, rühren noch mehr die Werbetrommel und loben das „Neue Deutschland“ in den höchsten Tönen. Nach genau 23 Minuten zappelt die erste Fliege am Köder: Schnurstracks lenkt ein Mann seine Schritte auf den Ama-teurverkäufer, greift in die Gesäßtasche und holt seinen Geldbeutel heraus: „Was kostet die?“

„Diese Zeitung habe ich noch nie gesehen“, wundert sich der 60jährige Arbeiter. Bereitwillig nennt er den Grund, warum er sich ausgerechnet für die DDR-Gazette interessiert: „Ich möchte mal sehen, was die da drüben schreiben . . .“ Neugierde veranlaßte auch einen 24jährigen Medizinstudenten, 15 Pfennig für ein „Neues Deutschland“ zu opfern. „Außerdem will ich einmal nachlesen, was Ostberlin zu den Ereignissen der Tschechoslowakei sagt“, meint der angehende Arzt, der kurz vor seinem Staatsexamen steht.

Obwohl wir noch etwa dreißig Minuten lang das „Neue Deutschland“ über den grünen Klee loben, interessiert sich kein Mensch mehr am Hauptbahnhof für das SED-Parteiorgan. In der Pfannenschmiedsgasse ist die Situation nicht anders. Bis auf zwei Schüler, die einen neugierigen Blick auf die Titelseite werfen, nimmt kaum jemand Notiz von uns. Selbst vor dem Polizeirevier 4 bleiben wir mit dem „roten“ Lesestoff allein. Unsere Hoffnung, daß sich die Beamten aus der Reserve locken lassen, erfüllt sich nicht: sie kennen offenbar schon das Gesetz, das den Verkauf von DDR-Zeitungen in der Bundesrepublik legalisiert. Außerdem sind sie fest davon überzeugt gewesen, daß wir einen gültigen Ge-werbeschein besitzen. . . Die Möglichkeit, Ostberliner Blätter in Nürnberg zu kaufen, wird als sehr gering eingeschätzt. „Alle unsere Versuche, über den deutschen Importeur in Köln Bestellungen bei den zuständigen Stellen in der DDR aufzugeben, sind gescheitert“, bedauert Christoph Z. (55) von der Bahnhofs-Buchhandlung. Bis jetzt hat er noch nicht einmal eine Antwort bekommen.

Deshalb wird sich auch künftig die Bevölkerung mit der grotesken Situation abfinden müssen, daß sowjetische Zeitungen wie die „Prawda“ oder „Iswestija“ jeden Morgen druckfrisch an den Kiosken hängen – nicht aber die Zeitungen aus dem anderen Teil Deutschlands.

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