Als Erlenstegen noch kein Nobelviertel war

6.6.2011, 15:47 Uhr
Als Erlenstegen noch kein Nobelviertel war

© Hermann Rusam

Auf alten Kupferstichen erblicken wir immer wieder den Dorfhirten beim Hüten des Viehs oder die Bauern, wie sie die Wiesen mähen oder die Ernte einbringen. Nach dem Urkataster von 1833 waren von den 960 Tagwerk der Steuergemeinde Erlenstegen immerhin 486 Tagwerk Ackerland und 118 Tagwerk Wiesen. In den 35 Hauptgebäuden des Dorfes lebten über ein Dutzend in der Landwirtschaft tätige Familien. Auf den als nicht schlecht bezeichneten Böden wurden vorwiegend Getreide und Kartoffeln angebaut. Daneben zog man auch Gemüse auf dem Kohlbuck oder in den Vorgärten, die bei keinem Gehöft fehlten. Sogar Spargel und Hopfen wurden angebaut.

Der vollständig erhaltene prächtige Steinsche Bauernhof in der Günthersbühler Straße 7 lässt anhand der Dachöffnungen noch heute den alten Hopfenboden erkennen. Zum letzten Mal soll der Ökonom Johann Stein, der 1921 verstarb, im Jahr 1905 Hopfen angebaut haben. Stein war auch der letzte Bauer, der in Erlenstegen Tabak angebaut hat. Im Jahr 1890 stellte er den Tabakanbau ein.

Kinderarbeit war ganz normal

Eine gewichtige Rolle spielte die Viehwirtschaft in Erlenstegen. Milch, Rahm und Eier wurden neben Spargel und Salat an einen weitgehend festen Kundenstamm in der Sulzbacher Straße und sogar in der Altstadt verkauft. Selbst die Kinder mussten beim Ziehen des Handwagens und beim Verkauf mithelfen. Zur Zeit des ersten Weltkrieges wurde dann das Selbstvermarkten verboten.

Selbst nach der Eingemeindung in den Stadtkreis Nürnberg am 1. Januar 1899 blieb Erlenstegen noch ein richtiges Dorf. Im Ortskern lebte fast ein Dutzend Familien, die in der Landwirtschaft tätig waren, wenngleich die Landwirtschaft in einigen Fällen neben der Fuhrwerkerei, der Bäckerei oder dem Gaststättengewerbe betrieben wurde. In den 1920er und 30er Jahren schritt aber dann die Verstädterung so rasch voran, dass die ländlichen Funktionen immer mehr in den Hintergrund traten.

Als die größten Bauern Erlenstegens galten Kalb und Bleisteiner. Im Gegensatz zum „Wirts-Kalb“ von dem weitbekannten renommierten Ausflugslokal „Kalbsgarten“ wurde der Ökonom Johann Kalb im Ort „Bauern-Kalb“ genannt. Bei Befragungen, die der Verfasser vor rund 40 Jahren in Erlenstegen durchführte, wurde der „Bauern-Kalb“ als ein „wohlsituierter, würdevoller“ aber auch recht „selbstbewusster Ökonom“ geschildert. Vor dem ersten Weltkrieg hielt er etwa zehn Kühe; zwei Mägde waren auf dem Hof beschäftigt. 1938 löste Johann Kalb, der kinderlos geblieben war, seinen landwirtschaftlichen Betrieb auf. 1966 verstarb er als der letzte Bauer von Erlenstegen.

Ebenfalls kinderlos blieben die zwei Brüder auf dem großen Bauernhof Erlenstegenstraße 103. Dass die Eltern beide Söhne auf den Namen Georg taufen ließen, mag zunächst überraschen, erklärt sich aber dadurch, dass es früher üblich war, den Kindern die Namen der Paten zu geben. Zu Verwechslungen im Alltag kam es jedenfalls nicht, rief man doch den einen Sohn Gerch, den anderen Schorsch. Da Gerch 1939 bei einem tragischen Unfall mit dem Fuhrwerk in die Pegnitz stürzte und dann an einer Lungenentzündung starb, führte sein Bruder Schorsch den Betrieb weiter.

Einst Eigentum des Deutschen Ordens

Der Hof gehört zu den ältesten von Erlenstegen. 1484 wird er erstmals als Eigentum des Deutschen Ordens genannt. Das stattliche Bauernhaus war ein für das Nürnberger Umland typischer Bau mit hohem Satteldach und prächtigem Fachwerkgiebel. In seinem hinteren Teil beherbergte das Haus den Kuhstall. Ging man vom Hofeingang in das Haus, so gelangte man links in eine gemütliche Bauernstube, von der aus man auf die Straße – und auf den Misthaufen blicken konnte. Zur Bauernstube gehörte eine Essecke mit einem großen alten Tisch und einer Eckbank. An der Wand hing das Bild von Kaiser Wilhelm I., in der Ecke stand eine alte Bauernuhr, ein Brotkorb hing an der Tür. Zur Bauernstube gehörte auch ein großer Kachelofen mit umlaufender Bank.

1945 brannte bei einem Bombenangriff der Fachwerkgiebel ab. Das Dach wurde notdürftig saniert. 1945 hatte Georg Bleisteiner noch vier oder fünf Kühe, 1950 nur noch eine einzige. Die Äcker wurden bald nicht mehr bewirtschaftet. Georg Bleisteiner hatte in seinem Leben schwere Schicksalsschläge hinnehmen müssen: den frühen Tod seiner Frau, Kinderlosigkeit, große Verluste durch die Inflation und Kriegszerstörungen und schließlich noch Übervorteilung bei Grundstücksverkäufen. Er musste schließlich den Zusammenbruch seines ganzen bäuerlichen Daseins erleben.

Vielleicht werden so einige Charaktereigentümlichkeiten verständlich, die man von ihm berichtete. Er wurde als etwas engherzig, ja geizig geschildert, doch galt er als grundehrlicher Mensch. Als Anekdote war zu hören, er habe seine Bäume am Kohlbuck gestreichelt und zu ihnen gesprochen: „Gherst mer scho noch!“ Im Alter saß er oft am Fenster, schaute auf die Straße und rauchte dabei behaglich seine Pfeife. Der Tod ereilte ihn 1956. Eine fast ein halbes Jahrtausend lang nachweisbare bäuerliche Geschichte auf dem Hof fand damit ein Ende. Georg Bleisteiner war der letzte Bauer Erlenstegens, der noch nach dem Zweiten Weltkrieg Landwirtschaft betrieben hatte. 1978 wurde das Bauernhaus, das viele Jahre leer gestanden hatte, abgebrochen.

Recht unauffällig verlief das Ende des letzten landwirtschaftlichen Betriebes von Erlenstegen. Es war der Hof von Frau Lienhardt, Günthersbühler Straße 12. Als ihr Hof 1945 völlig zerstört wurde, musste sie die Zahl der Kühe auf drei reduzieren. Wegen der großen Trockenheit im Sommer 1947 wurden zwei weitere Kühe weggegeben.

Das Grünfutter für die letzte Kuh fuhr Frau Lienhardt mit einer Schubkarre von einer kleinen Wiese auf dem Kohlbuck herab. Die Milch diente zuletzt nur noch zur Selbstversorgung und zur Belieferung einiger Nachbarn. Als 1955 die letzte Kuh verkauft wurde, war damit das Ende der Viehwirtschaft in Erlenstegen gekommen. Bis 1965 betrieb Frau Lienhardt in einem Garten am Kohlbuck noch etwas Anbau. Dann wurde das Grundstück verkauft. Damit endete die 800-jährige Geschichte des Bauerntums in Erlenstegen – von den meisten Bewohnern kaum bemerkt. Außer drei alten Bauernhäusern (Schlegestraße 2, Günthersbühler Straße 7 und 13) ist nichts geblieben. Immerhin verkaufen jeden Samstag die Bleisteinerschen Erben vor dem einstigen Bauernhof Gemüse.

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