Bauliche Zeugen der Wirtschaftswunderjahre

15.8.2019, 10:44 Uhr
Welch Zeitzeugnis! Mode, Autodesign und Baukultur der 1950er Jahre – hier das Nordstern- und das AEG-Haus am Marientorgraben (von links) – auf einem Bild vereint.

© Otto Siegner (Sammlung Sebastian Gulden) Welch Zeitzeugnis! Mode, Autodesign und Baukultur der 1950er Jahre – hier das Nordstern- und das AEG-Haus am Marientorgraben (von links) – auf einem Bild vereint.

Als der Verlag Ludwig Simon seinen 1958 erschienenen Bildband "Nürnberg" konzipierte, war klar: Nicht nur das alte Nürnberg sollten die geschätzten Leserinnen und Leser zu Gesicht bekommen, auch das neue Nürnberg des Wiederaufbaus und der Wirtschaftswunderjahre.

So findet man in dem handlichen Werk neben den üblichen Verdächtigen (Kaiserburg, Lorenzkirche, Albrecht-Dürer-Haus, etc. pp.) auch die Bayerische Staatsbank am Lorenzer Platz und drei der monumentalen Büropaläste, die in den 1950er Jahren am Königs- und Marientorgraben aus dem Trümmerschutt gestampft wurden.

2019 sind keine Menschen, dafür umso mehr Autos auf der Straße. Leider ist mit den früheren Nutzern der Büropaläste die „spacige“ Leuchtreklame verschwunden.

2019 sind keine Menschen, dafür umso mehr Autos auf der Straße. Leider ist mit den früheren Nutzern der Büropaläste die „spacige“ Leuchtreklame verschwunden. © Sebastian Gulden

Wie unser Luftbild zeigt, musste für sie quasi nichts Altes weichen, denn die Bomben des Zweiten Weltkriegs hatten die Vorgängerbauten bis auf ein paar Mauerreste zerstört – und so ziemlich alles andere rundherum auch. Aus diesem tragischen Umstand wussten die Stadtplaner Kapital zu schlagen. Die Tabula rasa gestattete ihnen, den Stadtraum an dieser Stelle neu zu ordnen – sowohl architektonisch als auch funktional.

Das entsprach der städtebaulichen Theorie der Zeit, die darum bemüht war, Wohnen, Gewerbe und Industrie so gut wie möglich zu trennen. So wurde die einst grüne, von noblen Wohnhäusern, Hopfenhandlungen und vereinzelten Industriebetrieben geprägte Marienvorstadt zu dem dicht bebauten Banken- und Versicherungsviertel, wie wir es heute kennen.

Bauliche Zeugen der Wirtschaftswunderjahre

© unbekannt (Stadtarchiv Nürnberg, A 41 188/XVII)

Wie schon rund ein Jahrhundert zuvor war auch beim Wiederaufbau ab 1952 eine hochkarätige Architektur im sensiblen Bereich des Altstadtrings oberstes Gebot. Sie sollte das moderne Gegenstück zur Silhouette Alt-Nürnbergs mit der Stadtmauer und dem Gewerbemuseum bilden. Entsprechend arriviert waren die Bauherrn und Erstnutzer, die wiederum nur die Crème de la Crème der Nürnberger Architektenschaft verpflichteten.

Bereits 1953, als noch weite Teile Nürnbergs in Trümmern lagen, konnte die Münchener und Aachener Versicherung (so hieß sie bis 1979) ihre von Wilhelm Schlegtendal geplante Dependance am Königstorgraben 1/ Ecke Marienstraße beziehen. 1956 zogen die Nordstern-Versicherung und die AEG mit ihren Neubauten auf den Anwesen Marientorgraben 9 und 11, geplant von Franz Reichel und Eduard Kappler, nach.

Obwohl von verschiedenen Planern stammend zeichnen sich die drei Kolosse durch gleiche Bauart und Gestaltungselemente aus, die jeweils in den Details abgewandelt wurden: Die in moderner Stahlbeton-Skelettbauweise mit Vorhangfassaden errichteten Bauten besitzen jeweils fünf Vollgeschosse.

Gläserne Versicherung: Seit 1953 prägt das gewaltige Bürohaus der Münchener und Aachener die Ecke Königstorgraben/Marienstraße.

Gläserne Versicherung: Seit 1953 prägt das gewaltige Bürohaus der Münchener und Aachener die Ecke Königstorgraben/Marienstraße. © Otto Siegner (Sammlung Sebastian Gulden)

Ein zurückgesetztes Attikageschoss belebt die Dachlandschaft und bietet Raum für weitläufige Terrassen fürs Raucherpäuschen mit grandiosem Ausblick: "Schaut auf diese moderne Stadt!"

Filigrane Flugdächer aus Spannbeton spenden Schutz vor Regen und Sonne und beleben die Fassaden. Die großen Fensterflächen fluten die tiefen Innenräume mit Tageslicht und vermittelten überdies nach außen jene Zukunftsgewandtheit und Transparenz, die die Nutzer für sich reklamierten – "sprechende" Architektur sozusagen.

Nur bei der Wahl der Natursteinverkleidung schieden sich die Geister: Während Wilhelm Schlegtendal am Königstorgraben auf den örtlichen Burgsandstein zurückgriff, waren Franz Reichel und Eduard Kappler dem bleichen Travertin zugetan, der sich in der Nachkriegszeit einer fast seuchenartigen Verbreitung erfreute.

Leicht modernisiert steht das Gebäude noch heute an seinem Platz an der Ecke Königstorgraben/Marienstraße. Mit der neuen Hausherrin hat sich auch die Außenwerbung geändert.

Leicht modernisiert steht das Gebäude noch heute an seinem Platz an der Ecke Königstorgraben/Marienstraße. Mit der neuen Hausherrin hat sich auch die Außenwerbung geändert. © Sebastian Gulden

Dass die drei Büropaläste noch heute die Geschichte der Nürnberger Wirtschaftswunderjahre erzählen können, verdanken sie dem Denkmalschutz. Wenngleich auch hier einige schöne Elemente der Bauzeit – etwa die Eingangstüren – über den Jordan gegangen sind, hat er ihnen doch die entstellenden Umbauten, die die meisten anderen Nachkriegsbauten der Marienvorstadt ereilt haben, erspart.

Ihrer noblen Immobilie treu geblieben ist keiner der Erstnutzer: Während heute im Anwesen Königstorgraben 1 Teile der Stadtsparkasse untergebracht sind, beherbergen die beiden Häuser am Marientorgraben nun das Hochbauamt, andere städtische Dienststellen und privatwirtschaftliche Büros.

Den Bildband von 1958 mit Begleittext von Helmut Weigel gibt es übrigens bisweilen noch antiquarisch zu erwerben. Schauen Sie mal rein. Es ist spannend, manchmal auch amüsant zu sehen, wie sich der Blick auf unsere Stadt in den letzten 61 Jahren gewandelt hat.

Liebe NZ-Leser, haben Sie auch noch alte Fotos von Ansichten aus der Region? Dann schicken Sie sie uns bitte zu. Wir machen ein aktuelles Foto und erzählen die Geschichte dazu. Per Post: Nürnberger Zeitung, Marienstraße 9, 90402 Nürnberg; per E-Mail: nz-leseraktion@pressenetz.de.

Noch mehr Artikel des Projekts "Nürnberg – Stadtbild im Wandel" finden Sie im Internet unter www.nuernberg-und-so.de/thema/stadtbild-im-wandel oder www.facebook.com/nuernberg.stadtbildimwandel.

1 Kommentar