Bleibende Risse? Wie die Pandemie die Ärmsten der Gesellschafft trifft

31.10.2020, 05:28 Uhr
Gerade rund um den Nürnberger Hauptbahnhof wird die Armut oft sichtbar. 

© André De Geare Gerade rund um den Nürnberger Hauptbahnhof wird die Armut oft sichtbar. 

Hat Corona die Gesellschaft schon verändert? Oder kommt das dicke Ende erst noch?

Rainer Trinczek: Jürgen Habermas hat dazu einen schönen Satz gesagt: "So viel Wissen über unser Nichtwissen und über den Zwang, unter Unsicherheit handeln und leben zu müssen, gab es noch nie." Man kann über die Folgen spekulieren, aber das muss sich erst zeigen. Sicher ist, dass Covid 19 ungleich auf die Gesellschaft einwirkt. Ungleichheiten, die es vorher schon gab, haben sich offenbar verfestigt oder sind größer geworden.

Erklärt, wie sich die Gesellschaft während der Pandemie verändert hat: Soziologe: Rainer Trinczek.

Erklärt, wie sich die Gesellschaft während der Pandemie verändert hat: Soziologe: Rainer Trinczek. © Foto: Franziska Sponsel/FAU

Wen trifft Corona besonders hart?

Trinczek: Alleinerziehende oder Familien mit jüngeren Kindern im unteren Einkommensbereich. Dazu kommen ungleiche Voraussetzungen im Bildungsbereich, die durch geschlossene Schulen verschärft werden. Je nach Elternhaus hat das häufig problematische Folgen.

Und wer kam besser klar?

Trinczek: Wer einen Garten hat, keine Sorgen um den Arbeitsplatz, keine alten Eltern zu pflegen und im Homeoffice gut klarkommt, kann die Krise relativ entspannt überstehen. Wenn ich mit mehreren Kindern in einer engen Wohnung eingesperrt bin, sieht die Sache anders aus. Hier hat wohl auch die häusliche Gewalt zugenommen. Wissenschaftlich untersucht wurde das allerdings noch nicht.

Frauen hatten im Lockdown mehr am Hals als die Männer?

Bleibende Risse? Wie die Pandemie die Ärmsten der Gesellschafft trifft

© Foto: imago images/Arnaud Chochon

Trinczek: Auch hier war Deutschland schon vor Corona sehr ungleich, was die geschlechtsspezifische Arbeitsbelastung betraf. Eine aktuelle Untersuchung hat ergeben, dass sich Frauen und Männer daheim mehr engagiert haben. Die Unterschiede haben sich also nicht dramatisch verschärft.

Alles also beim Alten?

Trinczek: Interessanterweise haben sich Männer mit mittlerer Qualifikation am meisten "gebessert", sich zuhause mehr eingebracht. Das wird zum großen Teil der Kurzarbeit zugeschrieben, die in dieser Zielgruppe stark verbreitet war.

Viele Institutionen sind nur teilweise oder gar nicht erreichbar.

Trinczek: Ich denke an Sozialdienste oder Frauenhäuser, die zu waren oder nur eingeschränkt helfen konnten. Das traf gerade die hart, die Unterstützung brauchen. Sie gehören zur relativ großen Gruppe der Corona-Verlierer.

"Staatskritische Haltung wird wohl stärker werden"

Hier Corona-Leugner, dort Zustimmung zu den Hygieneregeln. Ist die Gesellschaft gespalten?

Trinczek: Das war in Ansätzen schon vorher so, denken Sie an die Diskussion um die Einwanderung. Bei Covid finden allerdings unterschiedlichste Gruppen zusammen – von Rechten über Impfgegner, Esoteriker bis zu Liberalen, die um die bürgerlichen Freiheitsrechte fürchten. Das wird aber kein langfristiges Bündnis sein.

Die Gruppe wird zerfallen, wenn Corona überstanden ist?

Trinczek: Vermutlich. Jemand mit einer liberalen Haltung wird sich nicht auf Dauer mit Rechtsextremen zusammentun. Aber das bedeutet nicht, dass danach alles in Butter ist. Es wird nach wie vor Risse in der Gesellschaft geben, und eine staatskritische Haltung wird wohl stärker werden.

Ist es problematisch, dass die Parlamente in der Krise so wenig gefragt werden?

Trinczek: Darüber wird aktuell breit diskutiert, aber: Krisensituationen sind immer die Stunde der Exekutive.

Nochmal zum Homeoffice: Wird sich das durchsetzen?

Trinczek: Einiges wird wohl bleiben. Künftig dürfte es eine breitere Mischung aus Präsenz und Homeoffice geben. In den Universitäten war das übrigens schon immer so. Das ist eine effiziente Form des Arbeitens. Video-Konferenzen alleine sind keine Lösung.

Problem des Kontaktknüpfens

Aber praktisch sind sie schon.

Trinczek: Das ist immer nur ein Ersatz. Ich kann im Netz gut mit Leuten zusammenarbeiten, die ich schon kannte. Neue Kontakte übers Netz zu knüpfen, ist erheblich schwieriger.

Ist die Pandemie bereits ein Thema für die Forschung?

Trinczek: Es gibt zahlreiche Anträge, die laufen. Und es wird definitiv ein Forschungsthema sein, das sehr gut zu den laufenden Untersuchungen zur Digitalisierung passt. Nur durchs digitale Arbeiten ist Covid 19 überhaupt zu bewältigen. Stellen Sie sich das mal in den 1970 er Jahren vor, ohne Internet.

Ploppen jetzt neue Sinnfragen auf?

Trinczek: Die Menschen haben durch die Kontaktbeschränkungen gemerkt, wie wichtig soziale Beziehungen sind. In Krisenlagen fällt man immer zurück auf das engere soziale Netzwerk. Auch der Sinn manchen Konsumverhaltens wurde hinterfragt.

Also nicht mehr zweimal im Jahr nach Lanzarote?

Trinczek: Viele haben den Bayerischen Wald entdeckt, zum Beispiel. Ob das so bleibt, weiß man nicht. Wir haben das bei der Finanzkrise gesehen: Das Vergessen setzt unheimlich schnell ein. Ich habe Zweifel an der Nachhaltigkeit dieser neuen Bescheidenheit.

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