Brutaler Missbrauch: Frühere Domspatzen erinnern sich

27.7.2017, 05:57 Uhr
Noch immer leiden ehemalige Domspatzen unter den Folgen von Misshandlungen und Missbrauch.

© Kim Ludbrook/dpa Noch immer leiden ehemalige Domspatzen unter den Folgen von Misshandlungen und Missbrauch.

Mit 19 Jahren beendete Manfred das "traurigste Kapitel" seines Lebens. Er verließ die Domspatzen, suchte und fand einen Job als Elektronikfachmann in Erlangen und fuhr nur noch einmal nach Regensburg, weil er 2011 das Gespräch mit dem damaligen Bischof Gerhard Ludwig Müller suchte. Er wollte mit dem Geistlichen über seine Verletzungen sprechen, die er als Bub in der Vorschule in Etterzhausen erlitten hatte.

Manfred (Name geändert) war damals 40 Jahre alt und er hatte gehofft, im Gespräch mit dem Geistlichen die Wunden aufarbeiten zu können. Doch der knapp 1,70 Meter große, schmal gebaute Mann fühlte sich vor dem zwei Meter großen, strengen Bischof plötzlich wieder wie der kleine Bub, der geschlagen und misshandelt worden war. Die Knie wackelten und er musste wegen einer plötzlichen Durchfallattacke den Raum verlassen: "Ich hatte einfach Schiss." Als das Bistum dazu aufrief, dass sich Opfer melden sollten, hielt er still. "Erst, als ich den Abschlussbericht gelesen hab’, ist meine Dauerangst einem Gefühl der Befreiung gewichen. Ja, so war es, genau so übel." 

547 Missbrauchsfälle gemeldet - hohe Dunkelziffer

Rechtsanwalt Ulrich Weber nennt in seinem Bericht 547 Missbrauchsfälle, die er und seine Mitarbeiter als hoch plausibel einstufen. Darunter sind 67 Opfer sexueller Gewalt. Manfred gehört zu der vermuteten Dunkelziffer von etwa 200 ehemaligen Domspatzen, die sich nicht gemeldet hatten - aus Scham, Angst oder einfach der Sorge, dass die schlimmen Gefühle wieder hochkommen.

Nach seinen Schilderungen ist der Elektrotechniker das 68. Opfer sexueller Misshandlungen. Ob er Schadenersatzansprüche anmelden wird, ist ungewiss. "20.000 Euro gegen das, was ich erlitten habe? Nein, kein Geld der Welt kann das wiedergutmachen."

Manfreds Martyrium begann 1977, kurz vor seiner Einschulung. Sein Vater starb bei einem Verkehrsunfall. Seine Mutter konnte sich kaum um den Buben kümmern, sie musste arbeiten. Also kamen Verwandte in seiner Oberpfäler Heimat auf die Idee, den schüchternen musikalischen Blondschopf bei den Domspatzen anzumelden. "Stolz waren die Mutter und die Tante auf mich."

Dem Suizid nahe

Der kleine Manfred passte genau ins Beuteschema des Priesters Johann M.: Wehrlos, blond, schmal, kaum Unterstützung von Zuhause. Mit Schlägen machte er ihn gefügig und lebte seine sexuellen Perversionen an ihm aus. Manfred musste Wein trinken, bevor der damals 56 Jahre alte Mann an dem Achtjährigen seine sexuelle und sadistische Befriedigung suchte.

Den Übertritt ins Gymnasium erlebte Manfred als Befreiung. Aber, so sagt er heute, er habe den "Stempel des Opfers" auf der Stirn getragen: Wieder traf er auf Sadisten, die ihn verprügelten, seien es Präfekten oder auch Mitschüler. Die sexuellen Übergriffe wurden aber "selten und weniger schlimm".

Wenn Manfred erzählt, wird sein Gesicht starr. Die Augen drehen sich zur Zimmerdecke, die Hände sind verkrampft gefaltet, die Beine überkreuzt. Wenn er vom seinem Peiniger spricht, wirkt er noch kleiner, er krümmt sich auf dem Stuhl. Irritierend ist bei den Gesprächsinhalten allein die sonore Stimme, ein Tenor - "ja, ich hab’ gerne gesungen, aber dann einfach aufgehört."

"Er hat mich nachhaltig kaputt gemacht"

Als Manfred Regensburg und die Domspatzen verließ, war er dem Suizid nahe. Seine Mutter konnte mit dem verschlossenen Jugendlichen nichts anfangen; sie hatten sich entfremdet. Manfred war allein. In Erlangen wohnte er zur Miete bei einem jungen Ehepaar. Schnell fand er in seinem 12 Jahre älteren Vermieter einen Freund, "ja Vaterersatz, er paukte mit mir vor den Prüfungen."

Prekär wurde es, als sich der Freund in ihn verliebte und ihn küssen wollte, Manfred träumte derweil von der Frau seines Vermieters. Über Nacht suchte er sich eine neue Bleibe. Es sollte noch zehn Jahre dauern, so sagt er, bis er sich traute, eine Frau zu berühren. "Der Meier (Anmerkung der Redaktion: Sein Peiniger) hat mich nachhaltig kaputt gemacht." Noch heute habe er nur flüchtige Bekanntschaften mit Frauen, wegen seiner "Dauerangst vor Nähe".

Über die Folgen von sexuellem Missbrauch denkt der 46-Jährige viel nach, liest Fachliteratur, um "irgendwann den Schmerz loszuwerden": "Meist trifft es ja die Mädchen, aber bei den Domspatzen waren es halt die Buben."

"Buchstäblich nackte Gewalt"

Auch andere Reaktionen von Lesern zeigen, dass der "Schmerz der Buben" eigentlich sichtbar gewesen sein muss. Eine Frau erinnert sich an die 1960er Jahre, als ein ihr bekannter Bub sich als Domspatz völlig veränderte und "bleich und verängstigt durch die Welt irrte."

Ein weiterer ehemaliger Domspatz, etwa 65 Jahre alt, der in unserer Redaktion anrief, forderte dazu auf, die Gräueltaten der Priester und ihre sexuellen Praktiken detailliert in der Zeitung zu beschreiben. Immerhin genügte ihm der Einwand, diese Thematik sei im Abschlussbericht eingehend geschildert; eine Zeitung muss auch im Interesse der Opfer seriös bleiben.

Einig waren sich ehemalige Domspatzen in dem Urteil, dass zwar der Abschlussbericht gelungen sei. Es fehle aber eine Aufarbeitung innerhalb der katholischen Kirche. An diesem Punkt entzündet sich Hass und Sarkasmus: "Was die uns beigebracht haben, hat mit christlicher Nächstenliebe nichts zu tun. Das war buchstäblich nackte Gewalt." 

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