Corona in Nürnberg: "Den einen Treiber gibt es nicht"

15.4.2021, 05:55 Uhr
Besonders auf lokaler Ebene lassen sich weder zukünftige Prognosen treffen, noch eindeutige Treiber für das bisherige Infektionsgeschehen ausmachen. 

© Thomas Trutschel/photothek.de via www.imago-images.de Besonders auf lokaler Ebene lassen sich weder zukünftige Prognosen treffen, noch eindeutige Treiber für das bisherige Infektionsgeschehen ausmachen. 

Deutschland steckt mitten in der dritten Corona-Welle und die Infektionszahlen werden mit Sorgen beobachtet. Auch in Nürnberg bewegt sich der Inzidenzwert seit Tagen rund um die 200er-Marke und bezüglich des Anteils der Mutationen unter den Neuinfektionen wird von mindestens 70 Prozent ausgegangen.


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Diese dritte Welle kommt nicht überraschend, Prognosen hatten sie bereits angekündigt. Denn allgemeine Vorhersagen zu der Entwicklung des Virus lassen sich treffen – sie basieren unter anderem auf Erfahrungswerten, die zum Beispiel aus der Betrachtung der Ausbreitungsgeschwindigkeit der britischen Variante B.1.1.7 in Großbritannien und dem dortigen Verlauf der Infektionen gewonnen werden konnten.

Diffuses Infektionsgeschehen lässt keine lokalen Prognosen zu

Speziell für Nürnberg aber lässt sich auch nach einem Jahr Pandemie-Erfahrung nicht abschätzen, wie sich das Coronavirus weiterentwickeln wird: "Wir beobachten ein sehr diffuses Infektionsgeschehen und können daher keine Prognosen treffen", fasst der Soziologe Daniel Dravenau vom Stab Gesundheitsplanung und Gesundheitskoordination des Nürnberger Gesundheitsamtes zusammen.

Das läge vor allem daran, dass das Infektionsgeschehen nicht lokal oder regional begrenzt sei, wie die Leiterin des Gesundheitsamtes, Katja Günther hinzufügt: "Lokale Prognosen sind außerordentlich schwierig zu modellieren, wenn nicht sogar ohnehin als fragwürdig zu erachten. Insgesamt müssen wir aber feststellen, dass die allgemeinen Prognosen, die Deutschland für Ende März und Anfang April am Beginn einer dritten Welle gesehen haben, zutreffend waren, und somit von weiter steigende Fallzahlen ausgegangen werden muss."

Nicht nur die zukünftige Entwicklung bleibt offen, auch im Rückblick wirft der Verlauf der zweiten Welle mit hohen Nürnberger Infektions- und Todeszahlen im Spätherbst des letzten Jahres viele Fragen – unter anderem unserer Leser – auf: Warum war die Stadt, zum Beispiel im Vergleich zu München, zeitweise so viel stärker betroffen - und hat schon wieder fast doppelt so hohe Inzidenzien?

Keine eindeutigen Treiber oder große Cluster

"Diese Fragen haben wir uns natürlich auch gestellt und seitens der Politik bekommen", erläutert Dravenau. "Aber wo die Gründe dafür liegen, wissen wir nicht. Das Virus verbreitete und verbreitet sich auf eine Art in der Fläche, die wir nicht präzise nachverfolgen können." Die rückblickende Aufschlüsselung und Rekonstruktion der Gründe für die Nürnberger Infektionszahlen sei aufgrund fehlender Daten kaum möglich: "Mit den Daten, die wir haben, konnten und können wir nichts finden. Es gab keine eindeutigen Treiber oder große Cluster."


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Kleine ja, dazu gehörten, wie der Soziologe anführt, zum Beispiel bekannte Infektionsherde wie private Feiern, bei denen sich auf einen Schlag viele Menschen infizierten. Auch in Pflegeheimen kam es zu größeren Ausbrüchen, aber da die Bewohner der Heime weniger aktiv in der Stadt seien, könnten die Einrichtungen zwar als größere Cluster, nicht aber als Treiber gelten. "Es gab keine großen Häufungen, keine Kontaktorte, die sich besonders hervorgetan haben. Wann immer wir danach gesucht haben, konnten wir nichts bestimmen, was als besonderer Treiber funktionierte. Es gibt nicht den einen und auch nicht die zwei, drei, vier Treiber".

Vermutungen für Gründe

Dravenau erklärt weiter, er könne daher nur Vermutungen anstellen, wo die Gründe für die erhöhten Nürnberger Zahlen während der zweiten Welle liegen: Bayern sei insgesamt stärker betroffen. "Auch andere Großstädte hatten hohe Zahlen und zudem könnte die Nähe zu Tschechien eine Rolle spielen. Dort sind die Zahlen kontinuierlich sehr hoch gewesen. Hinzu kommt außerdem die Angrenzung zu Thüringen und Sachsen mit Landkreisen, die ebenfalls stark betroffen waren".

Der Soziologe vermutet neben den Pendlerströmen nach Nürnberg auch die in Bayern vorherrschende höhere Arbeitsmigration aus Südosteuropa – mit ebenfalls häufig hohen Zahlen – als Grund. Dass die Todeszahlen hier ebenfalls höher lagen, könnte an der älteren Bevölkerung liegen, so Dravenau: "Nürnberg ist eine ältere Stadt mit mehr Senioren, das spielt sicherlich eine Rolle".

Es fehlen die Daten

Woran liegt es, dass es keine Möglichkeit gibt, die Entwicklung der Coronazahlen in Nürnberg genau nachzuvollziehen? Das Problem sei, erklärt Dravenau, dass die Daten zu einer genaueren Analyse fehlen: "Von allen positiven Fällen, die uns gemeldet werden, sind es wenige – höchstens ein Viertel, wenn überhaupt – von denen wir klar sagen können, wo die Infektion passiert ist. Wir können zu oft nicht rekonstruieren, wo sich jemand angesteckt hat und dieses strukturelle Problem lässt sich auch nicht dadurch beheben, dass wir weitere Merkmale in der Datenerfassung erheben". Mit den bekannten Daten aus der Fallarbeit ließ sich bislang feststellen, dass einige Stadtteile Nürnbergs – allen voran die besonders dicht besiedelten – überproportional betroffen waren. Das allerdings ist kein Nürnberg-spezifisches Problem, diese Häufungen lassen sich auch in anderen Großstädten beobachten.

"Interessant wäre der Vergleich der Besiedelungsdichte in den stärker betroffenen Quartieren verschiedener Großstädte. Die Bevölkerungsdichte auf die Gesamtstadt bezogen, lässt sich leicht herausfinden, aber eine Betrachtung nur der Stadtteile mit hohen Inzidenzzahlen erfordert Datenmaterial, das nur sehr aufwendig zu bekommen ist. Solche Feinanalysen sind ein größeres Projekt".

Eines, welches das Gesundheitsamt baldmöglichst in Angriff nehmen möchte, wie Katja Günther erläutert: "Zur Aufklärung der stärkeren Betroffenheit bestimmter Sozialräume werden in Kooperation mit dem Amt für Statistik die Wohnverhältnisse und weitere soziodemographische Faktoren untersucht. Dafür sind allerdings zunächst Datenbereinigungen und -aufbereitungen vonnöten, die jetzt angegangen werden."

Wann wird es detailliertere Untersuchungen geben?

Dravenau fügt an, dass das Gesundheitsamt detailliertere Analysen im Visier habe, aber die Kapazitäten dazu momentan nicht vorhanden seien. "Ich gehe davon aus, dass das auch frühestens nach der nächsten Welle passieren kann, möglicherweise in Zusammenarbeit mit Kooperationspartnern und wissenschaftlicher Unterstützung. Wir sind im Gespräch, aber das befindet sich bislang alles noch in konzeptionellen Phasen".

Günther erläutert weiter, dass es neben der Kooperation mit dem Amt für Statistik zur Aufklärung sozialraumspezifischer Betroffenheiten bereits eine Vielzahl von Kooperationen mit unterschiedlichen Partnern - darunter unter anderem die das Uniklinikum und die Friedrich-Alexander-Universität in Erlangen, das Bayerische Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit oder die Ludwig-Maximilians-Universität München - gebe, zum Beispiel zum Thema Impfung, Impfdurchbrüche oder der Teststrategie. Projekte, die jedoch konzeptionelle Vorarbeit benötigten und sich daher bislang nur in ersten Erhebungsphasen befänden.

Sie ergänzt, dass die Kernaufgaben des Gesundheitsamtes darüber hinaus die Unterbrechung der Infektionsketten und die diesbezügliche tagesaktuelle Berichterstattung an Politik und Verwaltung sei: "Für wissenschaftliche Rekonstruktionen des Infektionsgeschehens stehen nicht so viele Ressourcen bereits, wie es wünschenswert wäre."

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