Von wegen "Elendsdroge"

Ein Ex-Süchtiger aus Nürnberg erzählt: "Crystal war die perfekte Droge"

Philipp Peter Rothenbacher

Nordbayerische Nachrichten Forchheim-Ebermannstadt

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10.3.2016, 10:05 Uhr
Aus der "Horror-Droge" wird immer mehr eine "Lifestyle-Droge": Crystal Meth.

© David Ebener (dpa) Aus der "Horror-Droge" wird immer mehr eine "Lifestyle-Droge": Crystal Meth.

Am Nachmittag des 3. Juli 1953 befindet sich der Österreicher Hermann Buhl 7820 Meter über dem Meeresspiegel. Wind und Schnee haben seinen Bart weiß gefärbt, Kristalle kleben an den Augenbrauen und Wimpern. Noch rund 300 Höhenmeter trennen den Bergsteiger vom Gipfel des Nanga Parbat. Seit 15 Stunden kämpft er sich allein und ohne Sauerstoffgerät voran. In der Todeszone – wo die Luft so dünn ist, dass jeder Schritt und jeder Atemzug zur Tortur wird. Dieser bis dato beispiellose Alleingang, die Erstbesteigung des Nanga Parbat, macht Buhl zur Legende.

Bevor er jedoch zum Gipfelsturm ansetzt, zückt der damals 28-Jährige ein kleines Döschen mit der Aufschrift „Pervitin“. Er nimmt zwei Tabletten, dann klettert er dem Himmel entgegen. 24 Stunden später - nach einem Biwak auf 8000 Meter, ohne Zelt, ohne Verpflegung, bei zweistelligen Minusgraden - kehrt er ins Hochlager zu seinen Kollegen zurück. Taumelnd, ja kriechend vor Erschöpfung, mit schlimmsten Erfrierungen an den Füßen. Noch am Leben, aber völlig verändert: "Ich bin nicht mehr ich - nur noch ein Schatten - ein Schatten hinter einem Schatten", erinnert sich Buhl später.

Pervitin war in Deutschland seit Mitte der 1930er Jahren ein beliebtes Medikament, zunächst frei verkäuflich. Es wirkte belebend, machte euphorisch. Pralinen mit Pervitin-Beigabe wurden als sogenannte „Hausfrauenschokolade“ verzehrt, Wehrmachtssoldaten nahmen die Tabletten während des Zweiten Weltkrieges, unter Sportlern galt es als wirksames Doping. Erst 1988 wurde das Medikament vom Markt genommen, obwohl die verheerenden Nebenwirkungen des Mittels schon lange bekannt waren.

Extrem hohes Suchtpotential

Denn der wichtigste Inhaltsstoff von Pervitin war die Substanz Methamphetamin – heute gemeinhin bekannt als Crystal Meth. Eine Chemie-Droge, die zu Beginn des 21. Jahrhunderts wie keine andere für Schlagzeilen sorgt. Preiswert, einfach herzustellen, überall verfügbar und mit extrem hohem Suchtpotenzial. Eine zerstörerische Droge, die ihre Konsumenten allem Anschein nach binnen kürzester Zeit innerlich wie äußerlich zerfrisst: Bilder von Menschen bevor und nachdem sie der Meth-Sucht verfallen sind, geistern schon lange im Internet herum und zeigen, wie alltägliche Gesichter zu zombiehafte Fratzen werden. Zu einem Schatten hinter einem Schatten ihrer selbst.

Hat sich seine Sucht von der Seele geschrieben: Dominik Forster.

Hat sich seine Sucht von der Seele geschrieben: Dominik Forster. © Michael Matejka

„Jede Droge hat eine Funktion. Wer sich Heroin drückt, drückt auf den Ausschalt-Knopf. Man nimmt es, um zu vergessen.“ Dominik Forster wählt seine Worte mit Bedacht. „Crystal ist das genaue Gegenteil: Es katapultiert einen mitten hinein ins Getümmel, macht aus dir einen selbstbewussten Menschen. Für mich war es die perfekte Droge.“ Es scheint absurd, dass dieser junge Mann einst ein regelmäßiger Meth-User war: Sportliche Statur, dichtes schwarzes Haar, sauber gestutzter Bart, kluge Augen hinter einer modischen Brille. Was er zu sagen hat, verpackt er in eine mal drastische, mal humorvolle Bildsprache. Es fällt schwer, den Nürnberger nicht auf Anhieb sympathisch zu finden.

Wenn Dominik von seiner Schulzeit erzählt, fällt häufig das Wort Außenseiter: „Ich war klein, dünn, hatte eine beknackte Frisur, kaum Freunde und musste viel Prügel einstecken.“ Seine Chance aus dieser Isolation auszubrechen, sah er mit 17 Jahren auf einer Jugendreise – in Form von Amphetamin, auch Speed genannt. Seine Hemmschwelle sei nie sonderlich hoch gewesen, sagt der heute 27-Jährige. „Du bist leicht zu beeinflussen, wenn du ohnehin das Gefühl hast, ein Aussätziger zu sein.“ Kurze Zeit später schnupfte er zum ersten Mal Crystal Meth. Was folgte, war eine Drogenkarriere, die vier Jahre später im Knast enden sollte.

Die Nase brennt

Methamphetamin wurde erstmals 1893 in Japan künstlich hergestellt, zunächst in flüssiger Form. Es regt das vegetative Nervensystem an und wirkt leistungssteigernd, weshalb es ursprünglich im medizinischen Bereich Verwendung fand. Unter Namen wie Meth, Crystal, Crank, Ice oder einfach nur „C“ ist es in fester (kristalliner) Form seit Ende der 1990er Jahre jedoch zur weltweit beliebten Modedroge aufgestiegen. Dafür werden die Meth-Kristalle zu Pulver zerkleinert, geschnupft, geraucht oder in Wasser gelöst und intravenös gespritzt.

Methamphetamin gilt aus mitunter gefährlichste Droge überhaupt, weil es schnell abhängig macht und äußerst aggressiv auf Körper und Geist wirkt: Zu den bekannten Symptomen zählen Juckreiz, Hautentzündungen, Herzrhythmusstörungen, Nierenschäden und rapide Abmagerung. Oft führt der Konsum zu starkem Karies und Zahnausfall, die Substanz zersetzt die Schleimhäute in Rachen und Nase. Zudem greift es als Nervengift das Gehirn an, löst paranoide Wahnvorstellungen und Verhaltensstörungen aus.

„Du wirst heute den geilsten Tag deines Lebens haben.“ Auf diese Aussage eines Freundes hin zieht sich Dominik sein erstes Meth durch die Nase. Die pulverisierten Kristalle bleiben an der Schleimhaut kleben, lösen sich auf und gelangen über feine Äderchen direkt in den Blutkreislauf. Die Nase brennt, ein bitterer Geschmack setzt sich im Rachen frei. Von der eigentlichen Wirkung der Droge ist Dominik zunächst nicht sonderlich beeindruckt: Es merkt kaum Unterschiede zu herkömmlichen Amphetamin. Wann beginnt dieser geilste Tag denn nun? Während er sich diese Frage stellt, ist er in einer Nürnberger Disko und tanzt stundenlang ohne Unterlass. Er ist schweißgebadet, aber wird nicht müde. Seit vierzehn Stunden ist Dominik hellwach. Der introvertierte Loser von einst strotzt vor Selbstbewusstsein, kaum einer kann mit ihm mithalten.

Fortan bestimmen Drogen sein Leben: Er ist Konsument, wird Dealer und versinkt in einer Scheinwelt. „Ich mache es mir nicht leicht und sage: Ich bin nur ein Junkie geworden, weil mich meine Eltern nicht geliebt haben. Im Gegenteil, sie waren eigentlich immer für mich da.“

Eine "Medien-Droge"

Mit 20 zog Dominik von zuhause aus und brach den Kontakt zu seiner Familie ab. Als Dealer machte er an guten Tagen bis zu 1500 Euro, war aber „selbst mein bester Kunde.“ Er wurde Anführer einer kleiner Clique aus ehemaligen Schulaußenseitern, die er laut eigener Aussage systematisch unter Drogen setzte. „Ich wollte ein Leben wie im Film, als kleiner Drogenbaron. Und überall hörte und las man nur noch von Meth, eine richtige Medien-Droge.“

Seine damalige Freundin war eine Prostituierte, ebenfalls süchtig. Mit 21 Jahren konsumierte er Crystal täglich, der physische und psychische Verfall wurde bemerkbar: Pickel, eingefallene Wangen, Abmagerung, Paranoia. „Es gab Phasen, da war ich zehn oder elf Tage lang wach. Kein bisschen Schlaf, das Meth hat meinem Körper vorgegaukelt, dass er den nicht braucht.“

Bald wurde die Polizei auf Dominik aufmerksam – besser gesagt, auf die rund 1,5 Kilo Amphetamin in seinem Besitz. Am Ende stürmte das SEK seine völlig verwahrloste Wohnung („alles war verschimmelt, überall stank es nach Fäkalien“). Er selbst war zu diesem Zeitpunkt nicht da, doch später stellte er sich und wanderte für zwei Jahre und sechs Monate ins Gefängnis – unter anderem in die JVA Ebrach, Bayerns größtem Jugendknast. Clean werden wollte er aber nicht. Noch war die Droge stärker als er.

Der Straßenpreis für ein Gramm Methamphetamin liegt in Deutschland bei 60 bis 80 Euro. Im Vergleich zu Kokain und Heroin ist das billig, was insbesondere daran liegt, dass die Herstellung der Substanz vergleichsweise einfach ist: Anleitungen zum „Kochen“ von Meth finden sich im Netz nach wenigen Klicks.

Auch die Beschaffung der notwendigen chemischen Zutaten bereitete in Deutschland bis vor wenigen Jahren keine allzu großen Schwierigkeiten: Die Ausgangsstoffe Ephedrin und Pseudoephedrin konnten bis 2006 legal in der Apotheke gekauft werden. Vor allem Tschechien gilt seither als ein Produktionszentrum von Crystal Meth in Europa. Die Qualität der Substanz und der Grad ihrer Verunreinigung durch Streckmittel (darunter Abflussreiniger oder Batteriesäure) schwankt enorm. Da man zur Meth-Herstellung hochentzündliche Stoffe wie Phosphor benötigt, kommt es häufig zu verheerenden Explosionen in den Hinterhoflaboren.

"Wir erbrachen Blut"

„Die Zeit im Knast war hart. Manchmal hatte ich Angst, daran zu zerbrechen“, erzählt Dominik. Nach einem Jahr Gefängnis begann er eine Therapie mit Freigang, allerdings nicht um clean zu werden: Er konsumierte lediglich Drogen, die schwerer in Urin und Blut nachzuweisen waren, unter anderem das Lösungsmittel GBL (Szenename Liquid Ecstasy).

Der Wendepunkt in Dominik Forsters Leben kam, als er eine Überdosis GBL erwischte: „Ich und ein paar andere, die auf 'Therapie' waren, kippten um, wir erbrachen Blut, bekamen Krämpfe. Und während wir am Boden lagen, machten zwei Typen, die keine Überdosis hatten, Handyvideos von uns und traten auf uns ein.“ Irgendwann rief jemand einen Krankenwagen. Dominik kam mit dem Leben davon. „Ich hätte dutzende Male sterben können, aber habe überlebt. Dafür musste es einen Grund geben. Um den zu verstehen, musste ich clean werden.“

In Deutschland weist der Konsum von Crystal in den letzten Jahren die mitunter höchsten Steigerungsraten bei illegalen Droge auf. Allein 2014 registrierten die offiziellen Stellen 3138 neue Fälle („erstauffällige Konsumenten“). Die meisten europäischen Staaten haben mit ähnlichen Entwicklungen zu kämpfen. Das Polizeipräsidium Mittelfranken stellte in den vergangenen zwei Jahren insgesamt etwa 1,5 Kilogramm Methamphetamin sicher, rund 400 Delikten im Zusammenhang mit Crystal ging die Polizei 2015 in Nürnberg nach. Fünf der 27 Nürnberger Drogentoten, die die Behörden 2014 zählten, waren Meth-Konsumenten.

„Das bedeutet aber nicht, dass die Todesursache Crystal war“, sagt Polizeisprecherin Elke Schönwald. „Es handelt sich vielmehr um Mischkonsum, um Drogencocktails.“ Eine echte „Meth-Szene“ gibt es in der Metropolregion laut der Beamtin aber nicht, „dazu ist die Konsumentenstruktur zu vielschichtig.“ Für die einen sei Crystal eine typische Wochenend- bzw. Partydroge, für andere ein alltägliches Doping. Ob Student, Büroangestellter, Politiker oder Hausfrau: leistungssteigernd soll es sein.

Droge mit Kultstatus

Diese Fakten widersprechen dem Ruf von Crystal, eine reine Party- beziehungsweise Elendsdroge zu sein. Ist das Rauschgift gar in der Mitte der Gesellschaft angekommen? Unbestritten ist seine mediale Popularisierung - mitunter durch die überaus erfolgreiche TV-Serie Breaking Bad, die auch in Konsumentenkreisen Kultstatus genießt und der nicht wenige eine Romantisierung der Drogenkultur vorwerfen.

Dass Crystal nicht nur in finsteren Wohnhausruinen städtischer Problemviertel von hoffnungslosen Junkies konsumiert wird, zeigt aktuell das Beispiel des Grünen-Politikers Volker Beck. Oder 2014 der Fall des SPD-Bundestagsabgeordneten Michael Hartmann.

Aber ist Crystal Meth tatsächlich die berüchtigte „Horror-Droge“, die umgehend süchtig macht? Das zumindest legen Berichte nahe, die besagen, dass nur etwa jeder Zehnte von der Abhängigkeit befreit werden kann. Laut Roland Härtel-Petri, einem der führenden deutschen Suchtforscher, entbehren sie aber jeglicher Grundlage: „Überall stößt man auf diese ominöse 90 Prozent-Rückfallquote. Tatsächlich ist die Crystal-Sucht aber gut behandelbar.“

Mit einem von ihm hierzulande eingeführten Therapie-Modell aus den USA schaffen Härtel-Petri zufolge rund 60 Prozent der Patienten den Entzug innerhalb eines Jahres. Ähnlich sieht das Benjamin Löhner von der Nürnberger Drogenberatungsstelle mudra: „Viele nehmen es einmal und nie wieder, weil ihnen die Wirkung von Meth einfach zu hart ist. Einen typischen C-Konsumenten gibt es nicht.“

Auf hohem Niveau eingependelt

Auch die vielbeschworene Crystal-Welle, die über den Freistaat hereinbricht, hält Löhner für eine mediale Übertreibung. „Bis 2010 konnten wir bei mudra-Neuaufnahmen einen starken Anstieg von Amphetamin-Konsumenten messen.“ Seither haben sich sich die Zahlen eingependelt, wenn auch auf hohem Niveau. „Mit Crystal Meth lassen sich aber zurzeit die größten Schlagzeilen machen.“ Löhner betont, dass nur zwei Substanzen wirklich dem Ruf der flächendeckenden Killerdroge gerecht werden: Alkohol und Tabak. „Doch solche Relativierungen sind heikel. Meth ist und bleibt eine extrem gefährliche Droge.“

Eine Droge gegen die die Polizei häufig machtlos ist. Denn erschwert wird der Kampf gegen Crystal im Großraum Nürnberg vor allem durch die Tatsache, dass es hauptsächlich Klein- und Kleinsthändler sind, die sich die Substanz in geringen Mengen beschaffen. Der Tagestrip nach Tschechien im eigenen Pkw als klassischer Fall. Manchmal gehen die Beamten konkreten Hinweise nach, doch meist beschränkt sich ihre Arbeit auf verdachtsunabhängige Verkehrskontrollen. „Wir haben da wenig Möglichkeiten, vieles bleibt im Dunkeln“, sagt Elke Schönwald. „Deshalb richtet sich unser Blick stärker auf präventive Maßnahmen - wie Aufklärungskurse an Schulen.“

In diesem Bereich hat auch Dominik Forster seine Berufung gefunden. In der gesamten Metropolregion hält er Lesungen und Vorträge über eine Zeit als Süchtiger. Verarbeitet hat er das Erlebte in seinem Buch „crystal.klar“, an dem er sich über drei Jahre hinweg alles von der Seele schrieb. Dementsprechend eindringlich liest es sich: Ein Erfahrungsbericht aus der Todeszone. Dominik hat sie verlassen. Noch am Leben, aber völlig verändert.

Hermann Buhl starb knapp vier Jahre nach seinem Grenzgang - bei einem Unglück an einer Felswand in Sichtweite zum Nanga Parbat. Seine Sucht nach den Bergen wurde ihm zum Verhängnis.

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