Nach 50 Jahren
Ein Leben für die Post: Erwin Nier geht in den Ruhestand
29.6.2021, 06:12 UhrHerr Nier, Sie waren über 50 Jahre in den verschiedensten Funktionen für die Post im Einsatz. Was waren die kuriosesten Erlebnisse, an die Sie sich erinnern?
Nier: Da fällt mir eine Anekdote aus meiner Zustellerzeit ein: Ich habe einen Einschreibrief und klingel. Es wird mir geöffnet - und sie hat fast nichts an. Ich war 17 und die Frau bestimmt Mitte 50. Leider Gottes auch noch sehr attraktiv ... Am Schalter wiederum bin ich durch eine Schule der menschlichen Gefühle gegangen. Da erlebst du Dinge von himmelhoch jauchzend bis zu Tode betrübt, wenn plötzlich ein Bestatter vor dir steht und nachfragt, ob er die Urne abholen kann. Dann denkst du: Wenn ich jetzt da hinter gehe, hole ich einen Toten hervor.
Wie hat sich die Arbeitsweise der Zusteller über die Jahre verändert?
Nier: Allein die Paketmenge der letzten zehn Jahre hat sich fast verdreifacht. Wir reden derzeit von rund 5,9 Millionen Paketen pro Werktag bundesweit. 2020 hatten wir pandemiebedingt im Schnitt einen Zuschlag von mehr als 15 Prozent. An Ostern 2020 lagen wir bei neun, an Weihnachten sogar bei elf Millionen Paketen.
Wie sah es noch in 1970er Jahren aus?
Nier: Mitte der 70er lagen wir bei zwei Millionen Paketen. Die Post war mehr der Versender für den Privatmann. Firmen haben viel über Speditionen gemacht. Durch die Privatisierung in den 90er ergaben sich andere Möglichkeiten. Seitdem sind wir als weltweit agierendes Unternehmen in über 220 Territorien unterwegs. Also war die Post, bei der ich vor 50 Jahren eingestiegen bin, eine ganz andere - andererseits ist das Ding halt immer noch gelb und hat ein schwarzes Posthorn (lacht).
Können Sie sich noch an ihren ersten Tag im Dienst erinnern?
Nier: Ja, weil ich ihm entgegengefiebert habe. Ich hatte den Ausbildungsvertrag in der Tasche, musste aber noch ein Jahr zurückstehen, weil ich die neu eingeführte neunte Klasse an der Hauptschule noch machen musste. Da war ich dann 15. Ich kann mich gut erinnern, weil ich das Postamt Donauwörth vorher nur einmal beim Bewerbungsgespräch betreten hatte. Ansonsten hatte ich mit der Post gar nichts am Hut.
Aber wie ist der Funke übergesprungen?
Nier: Mathe war nicht gerade mein Lieblingsfach, ich konnte aber schon immer Geschichten erzählen und schreiben. Das hat mir Spaß gemacht. So kam es aus Liebe zum Lesen, Schreiben und Geschichtenerzählen und auf Betreiben meines Vaters dazu.
In einer Vorstadt von Donauwörth waren Sie Ende der 70er Betriebsleiter eines Ein-Mann-Postamts. Was hat sie an dieser Aufgabe gereizt?
Nier: Die Arbeit im Stadtpostamt hat mir verdammt gut gefallen. Das war eine sehr volksnahe Geschichte. Ich hatte Leute vom Amtsgericht und Finanzamt zur rechten und vom Gymnasium und diversen Ämtern und Firmen auf der linken Seite. Zwischendrin waren zwei größere Wohnsiedlungskomplexe mit der gesamten Kientel - vom Neunjährigen mit Sparbüchse bis zur meiner weltberühmten Oma Bimslechner, die sich mit 81 ihre Rente auszahlen ließ.
Jeder kannte jeden
War das die schönste Zeit?
Nier: Ich hatte keine wirklich unschöne Zeit. Ich war gern Postbote, vor allem, weil ich einen gemischten Bezirk hatte, der auch ins Vordorf rausging. Mit den Kunden in Einfamilienhäusern, mit den Bauern, die da ihre Höfe betrieben haben – da war ich schon fast der klassische Landpostbote. Da kommst du im November hin und die sind gerade am Schlachten. Dann wirst du eine Viertelstunde aufgehalten, weil du unbedingt vom Kesselspeck probieren und den Schnaps trinken musst. Da gehörtest du einfach zur Dorfgemeinschaft dazu. Du hast alle gekannt und jeder hat dich gekannt.
Sind diese Zeiten nicht längst vorbei?
Nier: Es gibt sie sicher noch, wenn auch nicht in der Form und Fülle. Der Zeitgeist hat sich sehr verändert.
Wie hat sich auch das Verhalten der Kunden gewandelt?
Der Kunde ist wesentlich kritischer und anspruchsvoller als früher. Während wir früher vom Post-Benutzer sprachen, ist es jetzt der Kunde. Und der ist König. Nur manchmal sollte er die Kirche im Dorf lassen. Ich kann nicht an einem Tag im Winter, an dem es Blitzeis gibt, um halb zwölf den Kundenservice anrufen und fragen: Wo bleibt denn heute der Postbote? Dann muss man klipp und klar sagen: Der Schutz des Lebens und der Gesundheit der Mitarbeiter geht immer vor.
Es gibt in vielen Fällen aber auch berechtigte Kritik an der Post
Nier: Dass es auch bei uns manchmal knirscht und knackst, nicht alle ihr Bestes jeden Tag geben können und auch Fehler passieren, das kommt vor. In der Pandemie haben aber alle bewiesen, dass es diesen Zusammenhalt in der Truppe gibt. Die meisten der Zusteller haben bis zum Anschlag gearbeitet.
Die Anforderungen an die Zusteller werden immer höher, es beschweren sich deutlich mehr Kunden als früher. Würden Sie wieder zur Post gehen?
Nier: Als ich am Schalter und später in der Pressestelle war, gab es sicher den einen oder anderen Tag, an dem ich mir gedacht habe: Wäre ich bloß Postbote geblieben. Das würde ich aber sofort wieder machen. Und das hat einen Grund: Es gibt wirklich diesen Grundkonsens der Post-Familie. Das mag in anderen großen Unternehmen auch der Fall sein. Aber bei den Postlern stelle ich ihn immer wieder fest.
Der Ruhestand steht unmittelbar bevor: Wie geht es jetzt für Sie weiter?
Nier: Ab dem 1.Juli habe ich angeblich ganz viel Freizeit. Es wird aber keinen Cut geben, weil ich mich meinen Freizeitaktivitäten widmen möchte. Ich bin Aufsichtsratsvorsitzender einer Baugenossenschaft, Vorsitzender des Pfarrgemeinderats, Vorsitzender der Siedlergemeinschaft. Und dann wäre da noch mein kleiner Buchverlag. Im Brückenstadt Verlag geht es um Heimatliteratur, dort ist auch das Kinderbuch "Tuppo, der Nasenschlafmolch" erschienen. Diese vier Sachen bringen mich immer wieder mit den Medien zusammen.
Was machen Sie an ihrem ersten Tag in Freiheit als Rentner?
Nier: Ausschlafen – bis 7 Uhr etwa (lacht). Dann geht es los mit den Verpflichtungen, die ich nicht mehr geschafft habe, also mich von manchen Kollegen noch zu verabschieden. Langweilig wird mir sicher nicht. Der Rückhalt durch meine Frau und meinen Sohn war mir immer sehr wichtig. Die Familie kriegt jetzt endlich den Platz, der ihr schon immer gehört hat.
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