Einkaufen am Ort mit bewegender Geschichte

22.10.2019, 17:23 Uhr
Die Häuser Bucher Straße 84 und 86 (von rechts) im Jahre 1944. In der Baulücke in der Bildmitte sind ein Auto und eine Zapfsäule der Nord-Garagen zu erkennen.

© Hochbauamt (Stadtarchiv Nürnberg, A 39/I Nr. A39-I-77-R) Die Häuser Bucher Straße 84 und 86 (von rechts) im Jahre 1944. In der Baulücke in der Bildmitte sind ein Auto und eine Zapfsäule der Nord-Garagen zu erkennen.

Zugegeben, wenn Sie in den Supermarkt gehen, haben Sie höchstwahrscheinlich andere Sorgen, als sich zu fragen, was anstelle des Konsumtempels Ihres Vertrauens einstmals war. Wenn Sie eher außerhalb wohnen, dürfte die Antwort in der Regel ohnehin unspektakulär ausfallen (Acker, Wiesen). Kaufen Sie indes in der Kernstadt ein, lohnt sich die Frage schon eher.

Mein Supermarkt – er steht in der Bucher Straße 86 – ist für das Auge des Architekturbegeisterten eine sperrige Kost der späten 1970er Jahre: ein etwa kastenförmiger Koloss aus drei Voll- und einem zurückgesetzten Attikageschoss mit Fassaden aus Fensterbändern und Waschbeton-Vorsatzplatten, der neben besagtem Markt im Erdgeschoss Büros, Wohnungen und Praxen beherbergt.

Erheblich konservativer, obschon erst in den 1980er Jahren erbaut, gibt sich das nicht minder massige, blässliche Eckhaus Juvenellstraße 16 gleich nebenan. Mit seiner Erdgeschossverkleidung aus Sandstein und den abgewalmten Gauben knüpft es lose an die Vorkriegshäuser in der Nachbarschaft an.

So richtig passen die beiden Bauten nicht in das Bild der Bucher Straße, die sich ansonsten durch eine weitgehend erhaltene Bebauung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts auszeichnet. Was also war da vorher? Die Antwort auf meine Frage fand ich in Gestalt unseres historischen Fotos, erstmals abgedruckt im dritten Band der – übrigens sehr lesens- und vor allem ansehenswerten! – "Nürnberger Erinnerungen" (Seite 77) von Günter Hofmann.

Baumfrei und auch ansonsten stark verändert präsentiert sich die Ecke 2019. An Stelle der Häuser Bucher Straße 84 (jetzt Juvenellstraße 16) und 86 sind Neubauten getreten.

Baumfrei und auch ansonsten stark verändert präsentiert sich die Ecke 2019. An Stelle der Häuser Bucher Straße 84 (jetzt Juvenellstraße 16) und 86 sind Neubauten getreten. © Sebastian Gulden

Es zeigt die Häuser Juvenellstraße 16 (damals noch Bucher Straße 84) und Bucher Straße 86 in der Endphase des Zweiten Weltkriegs. Ersteres zeigt sich uns als typisches Nürnberger Vorstadtmietshaus des späten 19. Jahrhunderts. Erbaut hat es Maurermeister Bernhard Kerschl 1887 nach eigenem Plan als Kapitalanlage.

Mit der einfachen, aber wirkungsvollen Gestaltung der Straßenfronten im Stil des Klassizismus fügte sich das Gebäude in die zeitgleiche Bebauung am angrenzenden östlichen Ast der Juvenellstraße ein, die etwa gleichzeitig entstanden war. Die Fassaden waren mit Greppiner Klinkern verkleidet, die als besonders robust galten und sich zudem durch ihre ockergelbe Färbung auffällig von den Schmuckteilen und der Sockelzone aus Sandstein abhoben.

1902 übernahm Thomas Lösch die Metzgerei im Erdgeschoss und erlangte mit seinem laut Geschmackszeugenberichten sagenhaft leckeren Leberkäs stadtweite Berühmtheit – bis zum 2. Januar 1945, als das Eckhaus unterging. Die Bewohner unserer beiden Häuser kamen an diesem Abend mit dem Schrecken davon.

Laurent Mariucci und Marcel Cocart, zwei französische Kriegsgefangene, die sich zum Zeitpunkt des Angriffs auf dem Grundstück Bucher Straße 86 aufhielten, verloren dagegen im Bombenhagel ihr Leben. Die Metzgerei Lösch gibt es heute nicht mehr; nun wandern hier türkische Kaffee- und Gebäckspezialitäten über die Ladentheke.

Das erste Motel der Stadt

Das Haus Bucher Straße 86 spielte in puncto architektonische Finesse und Wohnkomfort in einer anderen Liga als sein Nachbargebäude. Zunächst hatte sein Bauherr und Entwerfer, der Architekt und Direx der Baugewerkeschule Hans Wilhelm Mayer, vorgehabt, auf dem Grundstück eine schmucke, zierliche Villa für sich und seine Familie zu errichten. Am Ende entschied er sich aber doch für die rentablere Alternative: 1889 entstand auf dem Grundstück ein Mietshaus mit vier großzügigen Etagenwohnungen und reich gegliederten Sandsteinfassaden in Formen der Neorenaissance.

Als in den Zwanzigern das Automobil Nürnberg eroberte, witterte Georg Eckert seine große Chance: 1929 machte er das Mayer’sche Anwesen zum vermutlich ersten Motel der Stadt. Während Eckert das Wohnhaus nach Plänen von Michael Heim zur Pension umbauen ließ, entstand nebenan im Garten eine Tankstelle mit Werkstatt und Kraftwagenhallen. Bis 1976, als die Nürnberger Omnia-Bau das gesamte Areal bis hinüber zur Gärtnerstraße abräumen und neu bebauen ließ, blieben die "Nord-Garagen" eine feste Größe unter motorisierten Nürnberg-Reisenden.

Heute erinnert fast nichts mehr an die Metzgerei Lösch und die Nord-Garagen, außer vielleicht das Meer von Blechkisten auf dem Kundenparkplatz im Innenhof. Dennoch, Sie sehen: So ein Supermarkt hat manchmal ganz schön viel zu erzählen!

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