Erfahrungen tiefer Brüche

16.8.2015, 18:42 Uhr
Erfahrungen tiefer Brüche

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Die evangelische Einrichtung war ursprünglich zur Betreuung und Seelsorge an deutschstämmigen Aussiedlern gegründet worden. Gilt das noch?

Arnold: Natürlich, aber das Spektrum hat sich enorm erweitert – weil sich ganz neue Entwicklungen ergeben haben und wir darauf reagieren mussten und wollten.

Wie kommt es, dass mehr Zuwanderer aus den GUS-Staaten als aus der Türkei hier leben?

Arnold: Es kommt eben darauf an, wie und was gezählt wird. Denn tatsächlich geht es bei den russischsprachigen Zuwanderern – nicht anders, als wenn pauschal von „Afrikanern“ die Rede ist – um viele und verschiedene Einzelgruppen. Nicht nur nach der geografischen Herkunft, sondern auch nach Geschichte und kultureller Prägung.

Soll heißen: Die Deutschstämmigen sind nur ein Teil . . .

Arnold: . . . nicht anders als die sogenannten Kontingentflüchtlinge, also Menschen mit jüdischen Wurzeln. Zu den beiden kommen noch einige weitere Teilgruppen. Und stets spielen Unsicherheiten und Vermengungen eine Rolle, religiös wie nach Nationalitäten. Ob Russen, Kasachen, Aserbeidschaner, Kirgisier oder Usbeken – da gibt es mentale Färbungen und Empfindlichkeiten, die wir gar nicht wahrnehmen. Aber untereinander spüren die Menschen das sehr genau. Oft geht es um tiefe Brüche in den Familien, um Erfahrungen von Verfolgung und Verlust, auch durch Inflationen. Ganz zu schweigen von den traumatischen Erlebnissen beispielsweise derer, die den unvorstellbaren Gräueln in Tschetschenien entkommen sind.

Was können Sie für die Leute tun?

Arnold: Zuerst mal einfach zuhören. Denn um beim Beispiel der Tschetschenen zu bleiben: Sie hängen über viele Jahre hinweg in der Luft, können weder zurück noch haben sie hier die geringste Perspektive – das ist extrem belastend. Und kann leider auch anfällig machen für radikale Kräfte, zum Beispiel salafistische Prediger. Es gibt Hinweise, dass Anwerbeversuche auch in Nürnberg laufen.

Wie gut gelingt es den Menschen, beruflich Fuß zu fassen?

Arnold: Das ist sehr unterschiedlich. Vor allem bei den Älteren wurden vorhandene Qualifikation hier oft nicht anerkannt und ihnen keine Chance gegeben zu beweisen, was sie können – eine echte Verschwendung von Kapazitäten. Und generell wird oft unser Schulsystem als kompliziert und schwer durchschaubar empfunden.

Offen gefragt: Blicken Sie durch beim deutschen Schulwesen?

Arnold: Zum Glück können wir da kompetente Unterstützung durch Stadtteilmütter anbieten, die selbst mit vielen Problemen konfrontiert waren und heute als Ehrenamtliche Betroffenen zur Seite stehen. Das bewährt sich sehr – und beide Seiten profitieren von dem Engagement.

Spüren Sie Auswirkungen des Konflikts um die Ostukraine?

Arnold: Leider ist die Krisenstimmung deutlich wahrzunehmen. Bei mir waren schon Flüchtlinge von der Krim, aber auch aus ukrainischen Nicht-Kriegsgebieten, denen unter der aktuellen Regierung der Boden unter den Füßen weggezogen wurde. Es gibt insgesamt das Bewusstsein, dass da etwas Ungeheuerliches geschieht – und eine große Hilflosigkeit, damit umzugehen. Interview:

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