"Erste Einschläge"

23.3.2020, 18:18 Uhr

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Trotz Ausnahmezustand und allen Sorgen: Sie sehen gerade "überall neue Formen der Solidarität". Für Sie die vielzitierte Chance in der Krise?

Stephan Doll:  Solidarität ist unser ureigenstes Thema, seit jeher die Grundlage der Gewerkschaftsbewegung. Wir wissen, was Füreinander-Einstehen und Gerechtigkeit bewirken. Es entsteht viel Gutes, zum Beispiel in Nachbarschaftshilfen. Solidarisch ist man nicht allein.

Der Schutz hat Priorität, klar. Da blieb nur die Absage . . .

Doll:. . . aber verbunden mit klaren Botschaften. So gilt jetzt unsere Solidarität und Hochachtung besonders allen, die in Kliniken und allen anderen Diensten tätig sind, um die Versorgung sicherzustellen. Dass ausgerechnet den Mitarbeitern im Einzelhandel noch erweiterte Öffnungszeiten zugemutet werden sollten, ist gänzlich unverständlich – aber die meisten Firmen haben zum Glück von sich aus darauf verzichtet.

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Unterdessen müssen sich schon zahlreiche Beschäftigte arbeitslos melden . . .

Doll: Ja, die ersten Einschläge sind unübersehbar. Betroffen sind vorwiegend die Schwächeren. Vor allem den 450-Euro-Kräften, etwa in der Gastronomie, wird gern gleich gekündigt. Die sind dann umgehend auf Leistungen vom Jobcenter angewiesen. Da rächt es sich, dass diese Jobs nicht vom ersten Euro an sozialversicherungspflichtig sind, sonst könnten auch diese Beschäftigten von Kurzarbeit profitieren.

Was schlagen Sie vor?

Doll: Zum Beispiel dürften nur die Firmen Staatshilfen wie etwa Kurzarbeitergeld erhalten, die nachweislich niemanden vor die Tür setzen. Und natürlich müsste das Kurzarbeitergeld – wie es in verschiedenen Branchen durch Tarifverträge gesichert ist – auf 80 oder 90 Prozent angehoben werden, sonst benötigen noch mehr Menschen aufstockende Leistungen von den Jobcentern. Ich fürchte, die könnten das gar nicht bewältigen.

Lässt sich der 1. Mai nicht vielleicht in anderer Weise sinnvoll begehen?

Doll: Wir denken tatsächlich über alternative Formen nach, vielleicht Mitmach-Aktionen von zu Hause aus. Klar ist: Wir können und wollen diesen Tag nicht einfach so verstreichen lassen, sondern klare Zeichen setzen: Das ist unser Tag! Wir müssen ja auch schon weiterdenken und uns vorbereiten auf die Zeit nach der Krise. Denn auch wenn jetzt alle zusammenhalten und durchregiert wird, darf das auf keinen Fall zu einem Abbau von Demokratie führen. Oder von Mitbestimmung – vereinzelt wird schon daran gesägt. Frei nach dem Motto: "Schaut her, es ist ja ganz gut ohne gegangen." Wir können Arbeitgeber nur vor jedem Versuch warnen, die Situation zu missbrauchen. Und im nächsten Jahr feiern wir den 1. Mai als weltweit größtes Fest der Solidarität.