Expertin verrät: "Wir waren für eine Seuche überfällig"

23.10.2020, 06:00 Uhr
Expertin verrät:

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Frau Dr. Thorn, warum ist es wichtig, das Coronavirus sichtbar zu machen?

Andrea Thorn: Eine Gefahr muss gut sichtbar sein, damit wir sie einschätzen können. Wenn ein Haus brennt, wissen wir, was zu tun ist. Doch das Coronavirus kann man nicht sehen, nicht anfassen. Es ist von größter Bedeutung, möglichst viel darüber zu erfahren, um die richtigen Entscheidung zu treffen. In New York sind über 25.000 Menschen an Covid 19 gestorben, also jeder 250. Einwohner. Wir dürfen die Gefahr nicht unterschätzen, sondern müssen die Kontrolle behalten mit dem wenigen, was wir momentan tun können: Maske tragen, Hände waschen, Abstand halten.

Viele Menschen empfinden die Einschränkungen zunehmend als Bevormundung und protestieren dagegen, weil sie die Gefahr für übertrieben halten.

Expertin verrät:

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Thorn: Ich wage zu bezweifeln, dass es eine starke Gegenbewegung ist. Meiner Meinung nach ist es eine laute Minderheit. Viele Leute protestieren aus Angst, weniger aus rationalen Gründen, und sehen in den Einschränkungen deshalb die Bedrohung, nicht im Virus.

Sie haben eine "Coronavirus Structural Task Force" gegründet, bei der weltweit mittlerweile 23 Wissenschaftler aus sieben Nationen mitarbeiten. Was ist Ihr Ziel?


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Thorn: Wir wollen herausfinden, wie die Moleküle des Coronavirus aussehen, wir wollen die Biologie des Virus verstehen. Es ist nicht kugelrund, wie man es von vielen Modellen kennt. Daher hat es bei unserem Modell den Spitznamen "Kartoffel". Das Coronavirus SARS-CoV-2 besteht aus vielen unterschiedlichen Molekülen, die es ihm erlauben, Zellen zu infizieren und zu “Virusfabriken” umzubauen. Die dreidimensionalen Strukturen dieser Moleküle werden mit Experimenten am Teilchenbeschleuniger bestimmt. Wenn man diese kennt, kann man Arzneimittel entwickeln, um die Moleküle gezielt an ihrer Funktion zu hindern.

Wie ist die Resonanz auf die Forschungen Ihrer Task Force?

Thorn: Wir stellen unsere Daten im Internet frei zur Verfügung. Über 100 Forschungsgruppen weltweit verwenden unsere Daten als Grundlage. Wir beschäftigen uns mit dem Lebenszyklus des Virus und mit der Frage, wie neue Viren produziert werden. Wir forschen, wie ein Impfstoff funktionieren kann. Aber wir arbeiten selbst nicht an einem Impfstoff. Momentan sind weltweit 20 Impfstoffe in der klinischen Phase, die Chancen sind gut, dass einer davon funktioniert.

Ist ein wirksamer Corona-Impfstoff schon im nächsten Jahr verfügbar?

Thorn: Die Weltgesundheitsorganisation hält eine Zulassung frühestens nach 18 Monaten für möglich - also ab März dieses Jahres 18 Monate. Das wäre im Herbst 2021. Es muss allerdings durch Tests belegt sein, dass der Impfstoff den Menschen nicht krank macht.

Das ist für die Entwicklung eines Impfstoffs sehr knapp.

Thorn: Normalerweise dauert es zwischen zehn und 20 Jahren, bis ein Medikament auf den Markt kommt. Doch die Zeit haben wir in der Pandemie nicht. Jetzt rächt sich, dass die Forschungsgelder zu den Coronaviren MERS und SARS nicht weiterbezahlt wurden, als die Krankheiten vor ein paar Jahren abgeklungen waren. Hätte man die Forschung kontinuierlich weiter finanziert, hätten wir heute vielleicht ein Arzneimittel oder einen Impfstoff.

Nach Pandemien wie SARS, HIV oder Cholera muss die Menschheit nun gegen Corona ankämpfen. Beginnt ein Zeitalter der Seuchen?

Thorn: Das glaube ich nicht. Die Pandemie ist keine Überraschung, wir waren statistisch gesehen überfällig für eine Seuche. Ich hätte aber eher einen Influenza-Erreger als Auslöser vermutet. Der Mensch wagt sich immer weiter in unberührte Wildnis vor und kommt dort mit Wildtieren in Kontakt. Da werden zoonotische Erreger leicht übertragen, denken Sie nur an HIV oder Ebola. Durch die Mobilität des heutigen Menschen verbreiten sich Krankheiten viel rascher und weiter als im Mittelalter.


Dr. Andrea Thorn hält den Vortrag "Das Coronavirus sichtbar gemacht" am Dienstag, 27. Oktober, um 19.30 Uhr im Katharinensaal, Am Katharinenkloster 6. Bei der Veranstaltung gilt Maskenpflicht. Da die Zuhörerzahl begrenzt ist, muss man sich bei der NHG, Telefon: (0911) 22 79 70 oder per mail: info@nhg-nuernberg.de anmelden. Auf jeden Fall sollten sich Interessierte am 27. Oktober auf der homepage nhg-nuernberg.de versichern, ob der Vortrag auch unter den gegebenen Corona-Vorschriften stattfindet.

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