Fall 31: Rettende Insel für viele mittellose Patienten

13.12.2019, 19:06 Uhr
Fall 31: Rettende Insel für viele mittellose Patienten

© Foto: Athina Tsimplostefanaki

Charlene hat einen hartnäckigen Husten, deshalb hat Krankenpfleger Patrick Phillips das Inhalationsgerät ausgepackt. Die Dreijährige mit den putzigen Zöpfen sitzt ruhig auf einem Stuhl und atmet die heilsamen Dämpfe ein, die ihre Bronchitis kurieren sollen. Mehr Sorgen als die Erkältung macht Phillips aber ein anderes Problem. "Wir haben sie noch nie lachen sehen", sagt der Mitarbeiter der Caritas-Straßenambulanz Franz von Assisi.

Warum, das können Phillips und sein Kollege Roland Stubenvoll, der die bekannte Einrichtung in der Nürnberger Südstadt leitet, nur ahnen – es hat vermutlich mit der Vorgeschichte der kleinen Familie zu tun. Mit Mutter und Schwester ist das Mädchen aus Nigeria übers Mittelmeer nach Italien geflohen, von dort aus haben es die drei bis nach Deutschland geschafft. Untergekommen sind sie in einem städtischen Heim für Mütter, doch ob sie bleiben können, ist ungewiss. Und noch haben sie nicht mal eine Krankenversicherung, weil ihre italienische Versicherung in Deutschland nicht gilt.

Die Straßenambulanz ist deshalb der rettende Anker für Mutter und Tochter – wie für viele andere auch. "Die Besucherzahlen sind auch in diesem Jahr gleichbleibend hoch", sagt Stubenvoll. Rund 1200 Menschen suchen jährlich medizinische Hilfe in der Einrichtung bei der Ludwigskirche. Es sind Menschen wie Charlene (alle Namen von Betroffenen geändert) und ihre Mutter, die keine Krankenversicherung haben; es sind aber auch Menschen, die sich nicht in eine normale Arztpraxis hineintrauen, weil sie sich schämen für ihre Beschwerden.

Wege aus der Sucht

Kopfläuse, Abszesse und Krätze zählen zu den typischen Symptomen, die Dr. Jörg Seiler und seine Kollegin in ihrer Praxis kurieren. "Die Behandlungen sind aufwendiger geworden, weil die Leute manchmal erst zu spät zu uns kommen", sagt Stubenvoll. Zu den Patienten gehören Obdachlose, die dankbar sind für eine warme Dusche und frische Kleider vor dem Arztbesuch, und Drogenabhängige, die froh sind, dass ihnen hier ohne moralischen Zeigefinger geholfen wird.

Natürlich versuchen auch die Mitarbeiter der Straßenambulanz, Wege aus der Sucht zu weisen, zum Beispiel über die dort angebotene Substitutionsbehandlung. Doch erst einmal helfen sie, ohne zu fragen oder zu urteilen.

Andrang ist groß

Dabei bietet die Einrichtung weit mehr als medizinische Hilfe. Für viele, die auf der Straße leben, ist der Tagestreff ein wichtiger Zufluchtsort. Andere kommen her, weil sie einsam sind oder mit ihrer schmalen Rente allein kaum über die Runden kommen. "Hier können sie stundenlang sitzen, ohne etwas verzehren zu müssen", sagt Stubenvoll.

Tee, Frühstück und ein warmes Essen sind kostenlos – auch weil die meisten Lebensmittel der Straßenambulanz gespendet werden. Um die Mittagszeit herum ist der Andrang manchmal so groß, dass die Menschen vor der Tür zum großen, holzgetäfelten Speisesaal des ehemaligen Klosters warten müssen – die Mitarbeiter
lassen nicht mehr Menschen hinein, als Platz finden.

Jetzt, am Vormittag, sind noch ein paar Stühle frei an den Tischen. Doris P. und Hans Z. spielen gerade "Mensch ärgere Dich nicht", sie haben sich hier kennengelernt und kommen regelmäßig her. P., weil sie aus der Obdachlosenpension flieht, in der sie sich ein Zimmer mit einer Bekannten teilt, Z., weil er auf das kostenlose Mittagessen angewiesen ist.

Die Schicksale beschäftigen

Als Techniker hat er früher gut verdient, doch als er mit Mitte 50 arbeitslos wurde, fand er keinen Job mehr. Jetzt muss er mit knapp 700 Euro Rente und Grundsicherung über die Runden kommen, mehr als die Hälfte seines monatlichen Budgets geht für die Miete drauf.

"Es ist ein Segen, dass es diese Einrichtung gibt", sagt der 67-Jährige, der, ebenso wie P., aber auch froh über die Gesellschaft der anderen ist. "Man ist nicht allein und wird versorgt." Stubenvoll und seine Kollegen merken, dass die Armut zugenommen hat. "Früher kamen vor allem Obdachlose und Menschen aus der Drogenszene zu uns", sagt der 53- Jährige. "Jetzt sind viele mit eigener Wohnung hier, die mit ihrem Geld kaum über die Runden kommen."

Das Schicksal der Besucher lässt den gelernten Krankenpfleger und Fachwirt für Sozial- und Gesundheitswesen manchmal auch am Feierabend nicht los. Dann denkt er an den Obdachlosen, der unter der Brücke schläft, während er selbst im Bett liegt, dann gehen ihm vor allem die Mütter und Kinder unter den Patienten nicht aus dem Kopf. "Zu uns kommen Schwangere manchmal erst im siebten Monat zur ersten Vorsorge." Zu wissen, dass ihre Kinder vermutlich auch in prekären Verhältnissen aufwachsen werden, dieser Gedanke tut Stubenvoll weh. "Wir kriegen hier täglich mit, wie entscheidend es ist, in welchem Land man geboren wird und wie man aufwächst."

Was tröstet, ist das Gefühl, in vielen Fällen helfen zu können – die positiven Reaktionen der Besucher beweisen es. Doch ohne Spenden wäre auch das nicht möglich. Nur ein Teil der Ausgaben ist über städtische Zuschüsse gedeckt. Die Weihnachtsaktion bittet um Unterstützung.

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