"Geiler Arsch!": Was sich Frauen auf der Straße anhören müssen

14.2.2021, 20:14 Uhr
Eine Nürnberger Initiative kämpft gegen verbale sexuelle Belästigung. Die Ehrenamtlichen schreiben die anzüglichen Kommentare genau dort auf die Straße, wo sie passiert sind – wie hier in der Fußgängerzone.  

© Instagram CatcallsofNue Eine Nürnberger Initiative kämpft gegen verbale sexuelle Belästigung. Die Ehrenamtlichen schreiben die anzüglichen Kommentare genau dort auf die Straße, wo sie passiert sind – wie hier in der Fußgängerzone.  

"Geiler Arsch!", "Ich weiß, du kannst gut blasen!", "Dich würde ich ja gern flachlegen.": Hat Sie beim Lesen dieser Worte ein unbehagliches Gefühl beschlichen? War es sehr unangenehm? Für viele Frauen in Deutschland ist die Konfrontation mit verbaler sexueller Belästigung Alltag. So auch für Anna Müller, Studentin aus Nürnberg. Fast täglich wurde sie auf dem Weg zur Arbeit mit ihrem Fahrrad belästigt, angehupt, sogar teilweise verfolgt. Das ging über Wochen, bis sie sich im Frühjahr 2020 dazu entschloss, gegen die sogenannten Catcaller vorzugehen und anzukreiden – im wahrsten Sinne des Wortes.

"Catcalling" – der englische Begriff meint nicht etwa das Hinterherpfeifen einer Katze, um sie damit anzulocken - es bezeichnet die verbale sexuelle Belästigung im öffentlichen Raum. Zum Repertoire gehören Kuss-, Zisch- und Pfeifgeräusche, aber auch übergriffige Sprüche, ungefragte Kommentierungen des Körpers oder unmissverständliche Gesten wie der Griff in den eigenen Schritt.

Der Tatort: Die Straße. Die Opfer: Meist Frauen. Doch auch Frauen werden teils selbst zu Täterinnen, wie Anna Müller weiß, ihrem Gefühl nach gehen diese dabei oft noch "sicherer vor als Männer". Dem Klischee folgend, ein Mann habe allzeit jede Avance zu goutieren. "Wir möchten uns für alle Menschen einsetzen, die Belästigung auf der Straße erfahren, Frauen, Männer und alles dazwischen", sagt die 27-Jährige. Mit "wir" meint Anna sich und zehn weitere Ehrenamtliche, darunter mittlerweile auch zwei Männer, die zusammen den Instagram-Kanal #catcallsofnue betreiben.

In New York entstand die Bewegung, von da aus breitete sie sich in die ganze Welt aus. Mittlerweile gibt es allein in Deutschland 77 Gruppen. Die Nürnberger Instagram-Seite ist seit Juli 2019 auf etwa 1700 Follower-gewachsen.

Opfer können Sprüche nur selten vergessen

Das Projekt "Catcalls of Nuremberg" macht sexuelle Belästigung in der Öffentlichkeit sichtbar. Per Direktnachricht oder Mail können Menschen ihre persönlichen Erfahrungen mit Sexismus im Alltag an das Bündnis senden. Dabei schicken oft schon Minderjährige ihre Catcalling-Erlebnisse. "Die Jüngste war elf", erinnert sich Anna.

Mit bunter, wasserlöslicher Kreide ziehen die Aktivistinnen und Aktivisten dann los und schreiben die verbalen Angriffe direkt an den Ort des Geschehens. In der Fußgängerzone, vor dem Hauptbahnhof, in Wohngebieten. Auf dem Asphalt wird die Wucht der Wörter oft noch viel deutlicher als ausgesprochen.

Mit dem Ankreiden solcher Erlebnisse wollen Anna Müller und ihr Team zeigen, dass sich niemand sexuelle Belästigung gefallen lassen muss und den Opfern eine Stimme geben. "Oft schicken uns Menschen Sprüche, die sie vor Jahren an den Kopf geworfen bekommen haben und nicht mehr vergessen können". Das allein mache die Ausmaße der Belästigung klar. "Wir wollen zum Nachdenken anregen", vielen Menschen sei nämlich gar nicht klar, dass das ein Problem in unserer Gesellschaft ist, betont Anna. Catcalling brauche ein gesellschaftliches Stoppschild.

"Nicht jeder Mann macht es, aber jede Frau kennt es"

Die Bewegung lebt von der Aufmerksamkeit, sie strebt aber auch in eine andere Richtung und drängt auf eine Änderung im Gesetz. Bislang gibt es für verbale sexuelle Belästigung in Deutschland noch keinen eigenen Straftatbestand. Unsere Nachbarländer sind da schon weiter: In den Niederlanden, Belgien und Portugal steht auch diese Art der Belästigung unter Strafe. In Frankreich kann Catcalling seit 2018 sogar mit einer Geldbuße von bis zu 750 Euro geahndet werden.

Ein solches Gesetz fordert die Würzburger Studentin Antonia Quell auch für Deutschland und ruft im Sommer 2020 eine Petition mit dem Titel "Catcalling sollte strafbar sein" ins Leben. "Nicht jeder Mann macht es, aber jede Frau kennt es", sagt die Initiatorin. Mittlerweile haben bereits 70.000 Menschen ihre Forderung unterzeichnet, genug um eine Stellungnahme der Bundesregierung zu verlangen.

Doch ein solches Catcalling-Gesetz ist in Deutschland umstritten. Dr. Mustafa Temmuz Oğlakcıoğlu vom Lehrstuhl für Strafrecht der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg verweist auf die Ultima Ratio. Sie stehe dem Staat als allerletztes Mittel zur Verfügung, um das Verhalten der Menschen zu steuern. "Statt mit der Keule des Strafrechts zu kommen, sollte der Staat vielmehr Präventions- und Aufklärungsarbeit leisten", so Oğlakcıoğl. Sensibilisierende Projekte auf sozialen Kanälen – wie auch die Catcalls-Aktion, Studien oder Sozialexperimente – seien "ein erster Schritt, das Annäherungsbewusstsein zu schulen."

Opfer suchen Schuld oft bei sich

Für Anna Müller wäre dagegen allein schon die Symbolkraft und die abschreckende Wirkung eines solchen Gesetzes hilfreich, ein Schritt in die richtige Richtung. In der Gesellschaft würde Catcalling zwar als unangenehm empfunden, aber immer noch zu oft einfach hingenommen werden, so die Studentin. Diese Erfahrung macht auch Sabine Böhm von der Frauenberatung Nürnberg. "Es ist leider noch Gang und Gäbe, dass Leute in diesen Situationen beschämt weggucken, anstatt zu helfen", erzählt die Soziologin. Vor allem von Männern, die Zeuge einer solchen Situation werden, erhofft sie sich eine klare Kante und eine "eindeutig ablehnende Haltung" zu zeigen. Eine Abfuhr von den Geschlechtsgenossen fruchte bei den Catcallern meist mehr, "leider passiert das aber viel zu selten".

Die Schuld für derartige Übergriffe suchen die Frauen meist bei sich selbst. Dabei trage das Opfer nie die Schuld, die "Täter suchen sich ihre Opfer zufällig aus, weil sie denken es passiert ihnen nichts", betont Böhm.

Lockdown setzt Aktion kein Ende: "Wir kreiden weiter"

Um gegen Catcalling vorzugehen, gibt es nicht den einen richtigen Weg. "Letztendlich gibt es kein Rezept, das für alle Situationen und alle Frauen anwendbar ist", erklärt Böhm Der Ausgangspunkt müsse immer die Gefühlslage der Betroffenen selbst sein. Oft, sagt sie, sei es der beste Weg, die Catcaller einfach zu ignorieren, um den Angriff schon im Keim zu ersticken. Wer sich sicher genug fühlt, könne die Täter aber auch mit dem Gesagten konfrontieren. Wichtig sei dabei, ein entschiedenes Auftreten.


Sexuelle Belästigung von Frauen: Ein Dauerzustand ohne Ablaufdatum?


Der von der Corona-Pandemie bedingte Lockdown setzt dem Projekt der Nürnberger Gruppe kein Ende. "Wir kreiden weiter", sagt Anna – soweit es die Corona-Regeln eben zulassen. Wenn sie ankreiden gehen, sei das Feedback größtenteils positiv, erzählt sie. Doch immer wieder entstünden dabei auch Gespräche unerfreulicher Art. Man solle sich doch nicht so anstellen, nicht direkt überreagieren, das sei doch als Kompliment gemeint gewesen, heißt es da.

Doch Catcalls sind nie Komplimente, sie sind was sie sind: übergriffig und entwürdigend. Wichtig ist, dass das Thema nicht mehr länger totgeschwiegen wird, mehr und lauter darüber zu reden - kleine Schritte in eine gleichberechtige Zukunft.

22 Kommentare