Tatort Bahnhof

Gewalt und Drogen: Warum der Hauptbahnhof Hotspot ist - und es weiter bleibt

26.10.2021, 05:00 Uhr
Am Eingangsportal zum Nürnberger Hauptbahnhof treffen verschiedenste Szenen aufeinander. 

© Nina Dworschak Am Eingangsportal zum Nürnberger Hauptbahnhof treffen verschiedenste Szenen aufeinander. 

Im Streifenwagen kommt Andi K. (Namen der Betroffenen geändert) wieder zu sich. Er ist gefesselt, atmet schwer. Am Morgen hat der 27-Jährige seine Verlobte in der gemeinsamen Wohnung verabschiedet, anschließend ging er zum Arzt. Dann verblassen seine Erinnerungen. Was ist passiert?

Neun Monate später sitzt Andi K. auf der Anklagebank vor dem Landgericht Nürnberg-Fürth. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm vor, an jenem Tag im August 2020 versucht zu haben, einen Menschen zu töten - mit mehreren Tritten gegen den Kopf. Seine Erinnerungen an den Nachmittag sind vernebelt, dass er da war, beweisen allerdings Videos von Überwachungskameras am Eingang zum Hauptbahnhof. Wie er dort hinkam, kann Andi K. nur mutmaßen.

Zu dieser Zeit sei er morgens für gewöhnlich zur Substitutvergabe gegangen. Substitute sind Medikamente für Drogen- bzw. Opioidabhängige. Sie sind eine Alternative zu illegalen Drogen wie Heroin und hemmen Entzugserscheinungen. Berauschende Wirkung entfalten sie nicht. Doch genau diesen Rausch hat er im August 2020 gesucht.

Deshalb besorgt er sich an jenem Morgen zusätzlich verschreibungspflichtige Medikamente bei einem Arzt am Keßlerplatz. Dann ging er weiter zum Rathenauplatz – dies sei seine typische Route gewesen. Dort habe er den Medikamentencocktail mit ein paar Bier, möglicherweise auch mit illegalen Drogen gemischt. Irgendwann stand er auf und ging entlang der Stadtmauer zum Bahnhofsvorplatz.

Hotspot Bahnhof

An den Stufen zum Nürnberger Hauptbahnhof treffen viele Szenen aufeinander - Obdachlose, Alkoholabhängige, Menschen aus der Drogenszene. Regelmäßig kommt es dort zu Konflikten. "Meiner Einschätzung nach ist es der häufigste Tatort Nürnbergs", erklärt Friedrich Weitner, Pressesprecher der Nürnberger Justiz. Eine Einschätzung, die der Kriminalitätsbericht der Polizei Mittelfranken bestätigt: Im Jahr 2020 war der Hauptbahnhof und die Königstorpassage ein Schwerpunkt für Raub und Körperverletzung.

Am Bahnhof herrscht Stress. Das ist für Streetworker Martin Kießling von der Drogenhilfe Mudra ein Grund für die vielen Straftaten, die am Hauptbahnhof begannen werden. Der Druck unter den Drogensüchtigen sei ständig hoch: Sucht, Geldsorgen und Ärger in der Szene. Erhöht werde dieser Druck durch die ständige Überwachung am Bahnhof. "Die Leute fühlen sich dort wie auf dem Präsentierteller", erklärt Kießling. Bis vor fünf Jahren konnte sich die Szene vor fremden Blicken in der angrenzenden Königstorpassage und am Ausgang zum Stadtgraben treffen. Bis die Stadt handelte, als Antwort auf tägliche Beschwerden.

Es wurden stärkere Kontrollen angeordnet, Zäune angebracht und mehr Beleuchtung ließ die dunklen Ecken der Passage verschwinden. In den Bahnhof konnte die Szene nicht ausweichen, dort sorgt die Bahn mit eigenem Sicherheitspersonal dafür, dass sich niemand länger aufhält als nötig. Für den Bereich um den Bahnhof erließ der Stadtrat 2016 ein Alkoholverbot, das jüngst verlängert wurde. Zusätzlich wird der Bereich seitdem mit Hilfe von Kameras überwacht.

Kameras halten das Geschehen am Bahnhofsvorplatz fest. Im Prozess gegen Andi K. sind die Aufnahmen der Kameras ein Beweis für seine Tat. 

Kameras halten das Geschehen am Bahnhofsvorplatz fest. Im Prozess gegen Andi K. sind die Aufnahmen der Kameras ein Beweis für seine Tat.  © Nina Dworschak

Die Bilder dokumentieren, wie Andi K. an jenem Samstag im August 2020 am Bahnhof ankommt. Es ist ein sonniger Tag, er gesellt sich zu einer Gruppe an der linken Säule des Eingangsportals. Manchmal kommen neue Leute dazu oder gehen wieder. Nach einigen Minuten kommt Bewegung in die Gruppe. Plötzlich wird geschubst, eine Person fällt auf den Boden. Es ist Hamid B. Schnell rappelt er sich wieder auf, kassiert aber gleich den nächsten Tritt - von Andi K. Quer über den Bahnhofsvorplatz jagt er sein Opfer mit Tritten und Schlägen, bis beide aus dem Bild verschwinden. Eine Passantin filmt den weiteren Verlauf: Hamid B. fällt hin und wird bewusstlos. Trotzdem tritt Andi K. weiter zu, gegen den Kopf seines Opfers. Er hört erst auf, als ihn Passanten wegzerren.

Die Zahl der Körperverletzungsdelikte am Bahnhof stieg trotz Kontaktbeschränkungen im Jahr 2020 auf 375 Fälle (2019: 366 Fälle; 2018: 480 Fälle). Die Zahl der Betäubungsmitteldelikte hingegen ging leicht zurück auf 818 Fälle (2019: 839 Fälle). Die Zahl der Abhängigen ist laut Streetworker Kießling, der mehrmals die Woche vor Ort ist, in den letzten Jahren konstant geblieben. Die Maßnahmen der Stadt haben zwar zu weniger Vorfällen in der Königstorpassage geführt, gelöst wurde das Gewaltproblem am Bahnhof aber nicht, sondern nur verlagert.

Nachhaltige Maßnahmen

Der Platz vor dem Bahnhof ist das Portal zur Stadt. Es ist das erste, was Besucher sehen, hier entsteht der erste Eindruck über Nürnberg. Dass genau hier ein Problembereich ist, stört. Stadtrechtsdirektor Olaf Kuch wünscht sich für dort eine freundliche und angenehme Atmosphäre. Das mehr im Bereich Drogenhilfe passieren muss, haben die Koalitionsparteien CSU und SPD im in ihrem gemeinsamen Kooperationsvertrag 2020 festgeschrieben. Das gemeinsame Ziel: Es soll ein Drogenhilfezentrum in Nürnberg geben. Wie das genau aussehen soll, ist allerdings noch offen.

Eine Option, die für Entspannung am Bahnhofsvorplatz sorgen könnte, wäre ein Drogenkonsumraum. Darüber sind sich die Suchtbeauftragte der Stadt, Andrea Freismidl, und Norbert Wittmann, Vorstand des Drogenhilfevereins Mudra in Nürnberg, einig. Hier könnten Abhängige zusammenkommen und hygienisch konsumieren. In anderen Städten hätte man damit gute Erfahrungen gemacht, so Wittmann. In Bayern sperrt sich allerdings die Regierung gegen derartige Projekte. Erst im April wurde der Antrag für eine Drogenambulanz in München vom Freistaat abgelehnt.


Interview mit Streetworker Martin Kießling: Das bewegt die Szene


Deshalb will man in Nürnberg andere Wege gehen. Die Stadt setzt bereits auf Substitutionstherapien, doch die Plätze dafür sind begrenzt. Bei einer Substitution werden Präparate von Ärzten verschrieben, um illegale Drogen zu ersetzten. Ausgegeben werden sie nur an offiziellen Stellen, es gibt hohe Auflagen. In dem Bereich will man nun neue Konzepte erarbeiten.

Noch bemerken die Menschen am Bahnhofsvorplatz kaum Veränderungen. Demnächst soll ein Spritzenautomat angebracht werden. Konsumierende können dort rund um die Uhr und anonym für 50 Cent saubere Spritzen kaufen, die sie vor einer Infektion schützen sollen. Die großen Veränderungen lassen aber auf sich warten – die Situation am Bahnhofsvorplatz bleibt weiter angespannt.

Kontrollen gibt es am Bahnhof viele. Sei es durch die Polizei oder den Sicherheitsdienst der Deutschen Bahn. 

Kontrollen gibt es am Bahnhof viele. Sei es durch die Polizei oder den Sicherheitsdienst der Deutschen Bahn.  © Nina Dworschak

Für Andi K. war der Bahnhofsvorplatz vorerst der letzte Ort in Freiheit. Die 5. Strafkammer des Landgerichts Nürnberg-Fürth verurteilt ihn wegen versuchten Totschlags und gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren. Das erste Jahr seiner Strafe muss Andi K. in eine Entzugsanstalt, es ist nicht seine erste Therapie. Sein Opfer Hamid B. behält keine bleibenden Schäden. Er sitzt mittlerweile selbst in Untersuchungshaft.

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