Baudenkmal im Industriegebiet

Gotteshaus mit Zipfelmütze: Die ausgefallene Architektur der Erlöserkirche in Nürnberg-Leyh

2.8.2022, 11:02 Uhr
An der Karl-Martell-Straße dürfen das alte Kirchenschiff und die 1961 angebaute sogenannte "Brauthalle" (links) noch glänzen.  

© Adlihtam Aida An der Karl-Martell-Straße dürfen das alte Kirchenschiff und die 1961 angebaute sogenannte "Brauthalle" (links) noch glänzen.  

Die traditionell katholischen Landstriche Europas sind geradezu vollgestellt mit Andachtsstätten. Selbst der kleinste Weiler hat sein Kapellchen oder wenigstens einen Bildstock. Anders sieht es in den evangelischen Regionen aus: Hier musste das Christenvolk bis ins 20. Jahrhundert hinein teils stundenlange Wanderungen auf sich nehmen, um zum Sonntagsgottesdienst im nächsten Kirchdorf zu gelangen.

So war es auch in vielen Orten des Nürnberger Umlandes, die um 1900 in die Pegnitzmetropole eingemeindet wurden. In jener Zeit bildeten sich vermehrt Vereine, zumeist unter Führung lokaler Industrieller und Geistlicher, mit dem Ziel, die kirchenlosen Siedlungen mit neuen Gotteshäusern zu versorgen.

An der Seite zur Sigmundstraße verdecken die hochgeschossenen Bäume und Gustav Gsaengers aparter Glockenturm heute den Altbau der 1920er Jahre.  

An der Seite zur Sigmundstraße verdecken die hochgeschossenen Bäume und Gustav Gsaengers aparter Glockenturm heute den Altbau der 1920er Jahre.   © Adlihtam Aida

1902 gründete sich der Kirchenbauverein Muggenhof-Höfen und Umgebung. Doch es sollte über zwei Jahrzehnte dauern, bis seine rührigen Aktiven in den Weimarer Jahren endlich die Mittel zusammenhatten, um die ersehnte Gemeindekirche Wirklichkeit werden zu lassen. Sie entstand 1927 bis 1928 auf einem Grundstück im Herzen des Dorfes Leyh, das der Verein von Gastwirt Leonhard Graf erworben hatte.

Inspiriert von der Romanik

Trotz der bescheidenen Mittel gelang Planfertiger Christian Ruck ein großer Wurf: Er ließ sich von den Kirchenbauten der Romanik inspirieren, wie dies viele Sakralarchitekten der Zwischenkriegszeit taten. Im Fall der Erlöserkirche offenbart noch heute der Blick auf die Seitenfassaden des Kirchenschiffes mit den schlanken, rundbogig geschlossenen Fenstern und dem Zackenfries unter der Traufe diesen Einfluss, im Inneren wiederum die rundbogigen Arkaden mit stilisierten Kapitellen und die dunkle Holzbalkendecke.

Allein, zu einem Glockenturm, der weit in die Vorstadtlandschaft hineingrüßt, reichte es beim ersten Aufschlag nicht. Das lag zum einen sicher an den finanziellen Mitteln, zum anderen an der Weisung des städtischen Hochbauamts, dass die Kirche nicht zu auffällig als solche zu erkennen sein solle. Der Grund: Der Bau sollte sich bestmöglich in das längst geplante Industriegebiet im Nürnberger Westen einfügen, in dem die Obrigkeit einen allzu ehrfurchtsgebietenden Sakralbau offenbar als deplatziert ansah.

Der Turm ist ein Charakterkopf

Daher fehlt der Erlöserkirche auch der übliche, durch einen Einzug baulich abgesonderte Chor. Stattdessen bekrönte ehedem ein durchaus respektabler Dachreiter mit Verkleidung aus Kupferblech das Gotteshaus, das – mit dieser Erscheinung durchaus passend – anfangs als "Betsaal" firmierte. Erst 1961 bis 1962 erhielt die Erlöserkirche einen vollwertigen Turm, und dann auch noch einen wahren Charakterkopf.

Auch diesmal durfte ein erfahrener Kirchenarchitekt ran: Gustav Gsaenger. Offenbar hatte der gebürtige Münchener ein ausgesprochenes Faible für gedrungene Türme, deren hohe, überstehende Spitzhelme einer Zipfelmütze ähneln. In ihnen befindet sich die Glockenstube, wobei die Erlöserkirche zusätzlich über einen kleinen Glockengiebel am Westgiebel des Kirchenschiffes verfügt.

So reiht sich die Leyher Kirche ein in den Reigen Gsaenger’scher Schöpfungen mit ganz ähnlichen Turmbauten, darunter die Friedenskirche in Dachau, die Kreuzkirchen in Hirschegg im Allgäu und Wolfsburg sowie die Petruskirche in Neuhaus am Schliersee. Anders als zahllose Gemeinden landauf, landab ersparten die Leyher ihrem Kirchenbau damals eine puristische Generalüberholung des Innenraums.

Der Kirchenbau selbst kam so zur Ausführung, wie er geplant war. Die Nebengebäude, wie diese Aufnahme um das Jahr 1961 zeigt, fielen weit bescheidener aus (siehe das Foto am Fuß der Seite links).  

Der Kirchenbau selbst kam so zur Ausführung, wie er geplant war. Die Nebengebäude, wie diese Aufnahme um das Jahr 1961 zeigt, fielen weit bescheidener aus (siehe das Foto am Fuß der Seite links).   © Ansichtskarte: Verlag Stöckel & Co. (Sammlung Sebastian Gulden)

So kann der, der die Kirche heute innen besichtigt oder dem Gottesdienst beiwohnt, noch in den seltenen Genuss einer weitgehend erhaltenen Sakralausstattung der 1920er Jahre kommen. Neben der um 1800 geschaffenen Kreuzigungsgruppe im Altarraum haben sich die originale Orgel der Höfener Firma Arnoldt, die Glasmalereien von Alois Miller und der gewaltige Radleuchter über dem Gemeinderaum erhalten.

Ein Glücksfall für das Dorf Leyh

Für das alte Leyh, das heute tatsächlich von Gewerbe- und Industriegebieten umzingelt ist, sind die Kirche und ihr Zipfelmützenturm ein wahrer Glücksfall – nicht nur hinsichtlich des Lebens in der Gemeinde, sondern auch mit Blick auf die Identität und den historischen Charakter dieses oft übersehenen Nürnberger Stadtteils. Es bestätigt sich auch hier: Kirchtürme sind Wahrzeichen.

Mit dieser Zeichnung von Architekt Christian Ruck warb der Kirchenbauverein Muggenhof-Höfen-Leyh 1927 für die Realisierung des lutherischen Betsaales – mit Erfolg.  

Mit dieser Zeichnung von Architekt Christian Ruck warb der Kirchenbauverein Muggenhof-Höfen-Leyh 1927 für die Realisierung des lutherischen Betsaales – mit Erfolg.   © Ansichtskarte: Verlag Ernst Nister (Sammlung Sebastian Gulden)

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