Religiöser Extremismus

In den "MotherSchools" kommen Tabuthemen auf den Tisch

17.5.2021, 10:09 Uhr
Glückliche Gesichter bei der Abschlussfeier einer "MotherSchools"-Gruppe: Das Unterrichtsmodell ermutigt Mütter von Heranwachsenden – und mittlerweile auch Väter – zu erzieherischer Umsicht als Vorbeugung gegen Extremismus im Namen der Religion. Links im Bild Initiatiorin Edit Schlaffer, Gründerin von "Frauen ohne Grenzen".

© Women without Borders Glückliche Gesichter bei der Abschlussfeier einer "MotherSchools"-Gruppe: Das Unterrichtsmodell ermutigt Mütter von Heranwachsenden – und mittlerweile auch Väter – zu erzieherischer Umsicht als Vorbeugung gegen Extremismus im Namen der Religion. Links im Bild Initiatiorin Edit Schlaffer, Gründerin von "Frauen ohne Grenzen".

In Nürnberg sind zuletzt zwei Jahrgänge dieser Mütterschulen gelaufen. So gut wie ohne Öffentlichkeit – ein bisschen Graswurzelbewegung macht dieses Projekt aus. Frauen lernen dabei von geschulten anderen Frauen, wie sie ihre heranwachsenden Kinder widerstandsfähig erziehen. Aus der Not – den Sorgen – wird eine Tugend: Vorbeugung.

Der Verein "Women without Borders" ("Frauen ohne Grenzen"), eine gemeinnützige Organisation in Wien, entwickelte die Idee 2012 in Tadschikistan. Heute gibt es die Mütterschulen auf drei Kontinenten, seit 2018 in Bayern, finanziert durch das Sozialministerium. In Unterfranken, Österreich und Belgien laufen auch erste Vätergruppen, weil sich immer wieder Männer von Teilnehmerinnen interessiert hatten.

Intimer Raum

Fatima Hourch ist eine der Nürnberger Trainerinnen. "Wir Mütter müssen raffiniert sein", sagt sie und lacht verschmitzt. Der Satz erzählt von einem wichtigen Prinzip der "MotherSchools": dem Gefühl, im selben Boot zu sitzen. Zu den Regeln für die jeweils zehn Sitzungen zählt außerdem: keine Vorurteile, Freiwilligkeit, Respekt. Was erzählt wird, bleibt im Raum. "Auf Basis dieses Vertrauens öffnet sich langsam eine Frau nach der anderen", erzählt Hourch. "Sie berichten von Situationen und wie sie sie gelöst haben."

Ich habe Angst vor Extremismus. Nicht so bei den Töchtern, aber bei den Söhnen. Es war immer sehr traurig für mich, mitanzusehen, wenn einige nach Syrien gingen. In den MotherSchools haben sie alles erklärt. Für mich gibt es eigentlich keine vorhersehbaren Schlechten oder Guten, die nach Syrien gehen, alle können es sein. (Eine Teilnehmerin; Quelle: Abschlussbefragungen durch Women without Borders)

Die Frauen, die Fatima Hourch mit einer Mitstreiterin jeden Freitagvormittag im Raum eines Jugendhilfevereins in Eberhardshof dabei anleitete, haben Wurzeln in Syrien, im Sudan, im Irak oder in Bosnien und mindestens ein Kind über zwölf Jahre. Sie unterhielten sich auf Deutsch; eine zweite Gruppe fand auf Arabisch statt. Sie wollen jetzt, nach ihrem Abschluss-Zertifikat, weiter Kontakt halten. Auch mit den Teilnehmerinnen des ersten Jahrgangs von 2019 steht die 55-Jährige noch in Verbindung.


Fake oder Fakt: Jugendliche können Unterschied nur schwer unterscheiden


Man kann sich diese Sitzkreise so vorstellen wie eine Erziehungsberatungsrunde, in der es längst nicht nur, aber manchmal auch um Frühwarnsignale für religiös motivierten Extremismus geht. Denn wenn ein Kind in eine extreme Ecke abdriftet - egal ob in Kriminalität, Drogensucht oder radikale Ideologien -, fehle zu Hause oft etwas, erklärt Fatima Hourch: Verständnis, Liebe, Aufmerksamkeit. Eine Anbindung. Die lasse sich nicht durch Kontrolle und Strenge herstellen.

Kinder brauchen mehr als Versorgtsein

"Es reicht nicht, dass das Kind gut versorgt ist mit Schule, Wohnung, Kleidung, Nahrung. Es braucht echtes Interesse von den Eltern. Dass sie ausstrahlen: ,Ich sehe dich, ich höre dich, ich bin voll dabei, was du erzählst.‘" Das fange bei Alltagsgesprächen an. Hört man da zwischen Hausarbeit und Job wirklich zu? Was, wenn sich das pubertierende Wesen kaum einen Halbsatz entlocken lässt? In Rollenspielen üben die "Mothers" kleine Szenen. Wenn es zum Beispiel Streit um die Handynutzung während der Nacht gibt. Oder wenn man wissen will, mit wem genau sich jemand so häufig trifft.

Außerdem habe ich Sorge, weil wir hier isoliert leben und dadurch werden die verärgert. Dann weiß man nicht, was sie einmal tun werden, sie haben so viel Frust durch die Ausgrenzung. Aber sie reden nicht darüber, das ist tabu. Die Teenager reagieren natürlich auf die Vorurteile, die erleben sie in der Schule und auf der Straße, jeden Tag. (Eine Teilnehmerin)

Frauen ermächtigen Frauen: Die Mütterschulen finden mittlerweile auf drei Kontinenten statt.

Frauen ermächtigen Frauen: Die Mütterschulen finden mittlerweile auf drei Kontinenten statt. © Women without Borders

Mit Hausaufgaben sollen die Mütter ihre Rolle in der Familie austesten. "Wir regen dazu an, am Küchentisch mal ein heikles Thema anzusprechen", sagt Elisabeth Kasbauer. Die Mitarbeiterin von "Frauen ohne Grenzen" betreut das Projekt im deutschsprachigen Raum. Neben Sprachfähigkeit geht es auch um Wissensvermittlung.


Jugendliche fühlen sich in Corona-Krise wenig gehört


Was macht Jungen und Mädchen auf Identitätssuche anfällig für einfache Weltbilder? Doch genauso wenig, wie es den einen Weg in den Extremismus gebe, zeigten alle Betroffenen dieselben Anzeichen. Rückzug, neue Freunde, besondere Kleidung, übertriebenes Interesse für ein Thema – damit könne es beginnen.

Theoretisch stehen die "MotherSchools" genauso Deutschen ohne Zuwanderungsgeschichte offen. Radikalisierung ist – das Sonderphänomen Rechtsextremismus mal ausgeblendet - kein exklusives Problem der muslimischen Welt. Islamischer Staat und salafistische Szene rekrutieren Nachwuchs in allen gesellschaftlichen Schichten in Mitteleuropa. In der Praxis zeigt sich die Einwanderungsgeschichte aber dann doch wieder als verbindendes Element der Nürnberger Teilnehmerinnen. Mit erlebtem Rassismus, Fluchtgeschichten oder traditionelleren Mann-Frau-Rollenbildern in den Familien steht und fällt auch das weibliche Selbstbewusstsein, das hier gemeinsam entdeckt wird.

Mit dem Extremismus ist es für mich so, dass es vorher so eine Angstwolke war, ja nicht in die Nähe kommen, weil wenn ich darüber rede, passiert es in meiner Familie, aber jetzt weiß ich, dass ich mich mit der Frage beschäftigen muss, dass ich wachsam sein soll, und dass ich nicht davon ausgehen kann, dass so was in meiner Familie nicht passiert. (Eine Teilnehmerin)

Das Thema ist oft ein rotes Tuch

Wie schambehaftet das Thema ist, zeigt die Entstehung dieses Artikels. Es lag nicht allein an der Corona-Pandemie, dass angefragte Interviews mit Kursteilnehmerinnen in Nürnberg nicht zustande kamen. "Radikalisierung ist ein Tabuthema", sagt Michelle Fowinkel. Die Politikwissenschaftlerin koordinierte das Projekt im Menschenrechtsbüro der Stadt Nürnberg, das mit seinem Präventionsnetzwerk gegen religiös begründete Radikalisierung der örtliche Träger war, jetzt aber vorerst keinen neuen Jahrgang startet.

Fowinkel nutzte "informelle Netzwerke", um die Trainerinnen und Teilnehmerinnen zu gewinnen. Kulturvereine, Elterninitiativen, Frauentreffs, "das läuft über Multiplikatorinnen und Mundpropaganda". Wenn sie das Projekt vorstellte, dann tastete sie sich auch bei den Formulierungen ganz langsam vor.

Denn viele Familien aus islamischen Kulturen fühlten sich in Deutschland durch Medienberichte nach Terroranschlägen oder über die Gefahren salafistischer Missionare pauschal verurteilt. "Wenn Erfahrungen von Diskriminierung dazukommen, wird das Thema zum roten Tuch." Die Mütterschulen wollten dem einen "geschützten Raum" entgegensetzen. Der sei absichtlich "politik-, ideologie- und religionsfrei" gehalten, sagt Elisabeth Kasbauer.


Unter Verdacht: Nürnbergerin erzählt von ihren Rassismus-Erfahrungen


Wie bei jeder Präventionsmaßnahme lässt sich nicht messen, was verhindert worden ist. Für "Frauen ohne Grenzen" zeigt sich der Erfolg immer wieder in den Abschlussbefragungen der Teilnehmerinnen. Kasbauer spricht von "Wow-Effekten": "Man spricht über seine tiefsten Ängste und Sorgen – und viele geben am Schluss an, sich stärker zu fühlen und dass es ihnen nun leichter falle, mit Freundinnen oder Nachbarn offen über Probleme zu reden."

Ich bin aufgrund der MotherSchools eine bessere Mutter, ich finde es super, dass ich mit Problemen umgehen kann und nicht ausweiche. Ich glaube, es geht im Grunde in der Frage des Extremismus um Integration. Meine Kinder sind keine Ausnahme-Kinder, aber ich helfe ihnen, dass sie sich gut integriert fühlen, und da habe ich sehr viel mitgenommen, weil ich sicherer bin über mich selber. (Eine Teilnehmerin)

Verwandte Themen


1 Kommentar