In der Realität ankommen

28.9.2017, 21:13 Uhr

Was früher die Christsozialen waren, ist für Russlanddeutsche heute die AfD – dies wurde in den Zeiten des Wahlkampfs von einigen Seiten behauptet und befürchtet. Tatsächlich hat die AfD in Nürnberg in den Wahlbezirken punkten können, in denen mehr als 15 Prozent der Wahlberechtigten Zuwandern aus den GUS-Ländern sind. Die Russlanddeutschen bilden dabei die größte Gruppe unter diesen Einwanderern.

So mancher wird nun über Russlanddeutsche die Nase rümpfen und sich empören, wie es denn sein kann, dass eine Gruppe der Einwanderer Sympathien ausgerechnet für die Partei hegt, die Einwanderung ablehnt. Doch das sollte man lieber nicht tun. Das wäre Populismus pur – nur unter umgekehrten Zeichen. Ein genauerer Blick auf die Gruppe der Russlanddeutschen lohnt sich.

In Langwasser stammen 4257 Wahlberechtigte aus den GUS-Staaten. In Nürnberg insgesamt leben schätzungsweise bis zu 40 000 Russlanddeutsche. Viele von ihnen wohnen gar nicht in den Stadtteilen mit einem hohen Anteil an Einwanderern. Es sind oft Menschen, die den sozialen Aufstieg in Deutschland geschafft haben und gut integriert sind. Vor allem die jüngere Generation der Aussiedler hat ihren Platz hierzulande längst gefunden. Für sie sind das russische Fernsehen und die russischen Läden nicht der Dreh- und Angelpunkt ihres Lebens. Diese Menschen lassen sich in der Regel nicht mit den Parolen der Populisten zufriedenstellen.

Es sind die anderen, die auffallen: In den besagten Wohngebieten mit hohen AfD-Werten leben oft Russlanddeutsche, deren sozialer Status nicht hoch ist, die zum Teil (noch) nicht in der deutschen Gesellschaft angekommen sind. Da ist die Angst, mit den geflüchteten Menschen um die knappen Ressourcen – wie Wohnung und Arbeit – zu konkurrieren, schon groß. Aber das ist kein typisch russlanddeutsches Phänomen, sondern ein gesellschaftliches. Die Angst vor dem Fremden zeichnet AfD-Wähler ebenfalls aus. Schließlich gibt es unter ihnen auch viele gut situierte. Bei den russlanddeutschen AfD-Wählern spielt die Sorge vor einem kulturellen Niedergang Deutschlands eine große Rolle. Vor der Auswanderung galt Deutschland den Aussiedlern als ein gelobtes Land, in dem sie "als Deutsche unter Deutschen leben" wollten. Sie waren nicht darauf vorbereitet, dass Deutschland multikulturell ist. Das zu akzeptieren fällt einigen weiterhin schwer. Auch deswegen, weil in der Sowjetunion Multikulturalität meist nur eine Floskel war. Es gab eine ungeschriebene Hierarchie, in der Muslime unten standen. Ein weiteres Päckchen, dass Russlanddeutsche und andere Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion mitgebracht haben: Keine Erfahrung mit Demokratie. Den Menschen mangelt es an politischer Bildung und manchen auch an dem Willen zu akzeptieren – Es gibt keine einfachen Wahrheiten.

Aber die Vergangenheit kann nicht immer als Entschuldigung für alles gelten. Wer in Deutschland lebt, soll sich mit der Realität hier auseinandersetzen: politischen und gesellschaftlichen. Wer auf die Werbung auf Russisch angewiesen ist, seine Informationen hauptsächlich aus russischem Fernsehen speist, den Kontakt zu Einheimischen meidet und sich gleichzeitig über Frauen in Kopftüchern auf der Straße ärgert, ist mindestens auf einem Auge blind. Wer zu wenig über das politische System Deutschlands weiß, kann sich informieren und auch deutsche Zeitungen wie die NZ, die darüber berichtet, lesen. Es gibt zudem viele Bildungseinrichtungen, die solche Angebote haben.

In der Bringschuld ist auch die Politik. Sie sollte nicht darauf setzen, dass die AfD sich zerfleischt und von alleine verschwindet. Wenn die Regierung es schafft, zu vermitteln, dass sie die Situation mit geflüchteten Menschen im Griff hat, dann gibt es bei den nächsten Wahlen garantiert weniger russlanddeutsche AfD-Wähler. Und die Politiker sind gut beraten, der deutschen Politik ein Gesicht zu geben – ihres. Sie sollten verstärkt das Gespräch mit Russlanddeutschen suchen. Das ist mühsam. Aber das ist ja vieles in einer Demokratie.

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