"Inklusion geht nur im Schritttempo voran"

11.12.2019, 19:19 Uhr

© Foto: epd/Jens Schulze

Im Schuljahr 2018/19 wurden laut staatlichem Schulamt in Nürnberg 500 Mädchen und Jungen mit Förderbedarf einzeln an Regelschulen unterrichtet, 100 Kinder mehr als im Jahr zuvor. Die Zahl steigt weiter, heißt es im Schulamt. Was damit zusammenhängt, dass immer mehr Kinder getestet werden und einen Förderbedarf bescheinigt bekommen. Bundesweit stieg die Zahl der Kinder mit einer Diagnose zwischen 2009 und 2017 um 20 Prozent. Das sind nicht weniger als 90 000 Schülerinnen und Schüler.

"Keine Garantie"

"Natürlich wäre es ideal, wenn Kinder in der Einzelintegration auf ähnlich gute Weise unterstützt würden wie in einem Förderzentrum", sagt Gsell. "Das ist aber nicht zu garantieren." Es fehlt an (Förder-)Lehrern, an Räumen für differenzierten Unterricht, an Therapeuten und Pädagogen.

In Nürnberg steigt auch die Zahl der Kooperationsklassen in Grund- oder Mittelschulen leicht an, in denen mehr als drei Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf lernen. Gsell bezeichnet sie als "Einstieg in die Inklusion", weil die Kinder auch dort noch viel getrennt unterrichtet werden. Die Zahl der Schulen mit dem Profil Inklusion, die mit festen Sonderpädagogenstellen ausgestattet sind und damit besser präpariert sind als Schulen, die einzelintegrativ unterrichten, steigt jedoch in Nürnberg nicht: Vier Grundschulen, die Mittelschule St. Leonhard und die Geschwister-Scholl-Realschule arbeiten als Profilschulen. Die Mittelschule Bismarckstraße bewirbt sich gerade darum.

In Bayern werden im Ländervergleich besonders viele Kinder an Förderzentren und nicht inklusiv beschult. Der Anteil lag 2017 bei 4,9 Prozent, seit 2009 war die Separationsquote sogar noch gestiegen. "Für Nürnberg gab es zuletzt nach einer Anfrage der Grünen-Landtagsfraktion genaue Zahlen vom Kultusministerium", sagt Christine Primbs, Vorsitzende der Elterninitiative Inklusion Bayern e. V. In der Noris gingen 2012 insgesamt 6,3 Prozent eines Jahrgangs auf eine Förderschule, "das ist eine auffallend hohe Quote, in München lag sie zum Beispiel bei 4,4 Prozent".

Laut UN-Behindertenrechtskonvention erfüllen Länder, die neben dem regulären Schulsystem an Förderschulen festhalten, nicht die Verpflichtung zur Schaffung einer inklusiven Schule. Für Primbs widersprechen auch Partnerklassen zwischen Regel- und Förderschulen dem Recht aller Kinder darauf, in ihrem Wohnumfeld die allgemeine Schule zu besuchen. "Wie zu den Förderschulen, müssen die Kinder oft weite Wege fahren, um zur Kooperationsklasse zu kommen." Außerdem seien Regelklassen überfordert, wenn dort zum Beispiel gleich sieben Kinder mit Handicap sitzen. "Das führt wieder zu getrenntem Unterricht und auch zu Stigmatisierung."

Freilich: Durch den gemeinsamen Unterricht gewinnen auch die Kinder ohne Handicap. Primbs Tochter kam mit einem schweren Herzfehler auf die Welt, sie ist körperlich sehr beeinträchtigt und kann sich nur schlecht sprachlich ausdrücken. "Als sie in die siebte Klasse ging, sagte der stellvertretende Leiter ihrer Mittelschule zunächst, dass er bei Inklusion skeptisch ist. Doch nach einer Weile war er begeistert davon, wie sehr ihre ganze Klasse an sozialer Kompetenz gewonnen hatte."

Ein gemeinsamer Unterricht für alle Kinder müsse selbstverständlicher werden, fordert Ullrich Reuter, Leiter der Jakob-Muth-Schule, eines privaten Förderzentrums mit dem Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung. Dafür müsse sich aber beispielsweise personell vieles verbessern. Zehn von 17 Klassen seiner Schule sind Partnerklassen: Vier Grundschulklassen werden extern an der Wahlerschule unterrichtet, außerdem gibt es vier Ikon-Klassen, für die Kinder der Dunantschule an das Förderzentrum kommen. Hinzu kommen zwei Klassen, die mit der Geschwister-Scholl-Schule kooperieren.

Zu große Klassen

Ein Problem sieht Reuter in den Klassenstärken: Wenn Kinder mit und ohne Handicap zusammen lernen, geht das nur in kleinen Gruppen. "Dafür sind dann aber die Regelklassen, auch an der Dunantschule, größer." Denn durchgängig kleinere Klassen bekommen die Partnerschulen vom Kultusministerium nicht finanziert. Die Kommune könne Inklusion vorantreiben, indem sie barrierefreie Räume schafft, ebenso wie Platz für Pflege und flexible Einheiten für differenzierten Unterricht, sagt Reuter. "Wenn wir Schulen umbauen, versuchen wir mitzudenken, dass sie barrierefrei werden", sagt Gsell. "Aber wir führen wenige Maßnahmen durch, allein um eine Schule behindertengerecht zu machen." Dafür sei der Sanierungsstau an den Schulen einfach zu groß.

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