Leben ohne Nachwuchs

Interview: "Kinderlosigkeit gilt noch immer als Makel"

25.6.2021, 06:02 Uhr
Schwanger oder nicht? Manche Frauen warten vergeblich auf Nachwuchs, andere entscheiden sich bewusst dagegen. Rechtfertigen müssen sich die meisten.

© CLARK, NN Schwanger oder nicht? Manche Frauen warten vergeblich auf Nachwuchs, andere entscheiden sich bewusst dagegen. Rechtfertigen müssen sich die meisten.

Frau Wallraff, Sie lassen in Ihrem Buch 50 Frauen ohne Kinder ausführlich zu Wort kommen. Warum haben Sie aus deren Lebensläufen ein Buch gemacht?

Den Anstoß hat tatsächlich meine Arbeit gegeben. Ich berate Männer und Frauen, die ungewollt kinderlos sind. Viele meiner Klientinnen haben mir erzählt, dass um sie herum vor allem Mütter sind und dass sie keine kinderlosen Frauen kennen, die mit ihrem Leben zufrieden sind und die selbstbewusst über das Thema reden. Sie haben nach Vorbildern für ihre Lebenssituation gesucht. Deshalb ist dieses Buch entstanden.

Haben Sie denn diese Vorbilder so einfach gefunden?

Das war gar nicht so schwierig. Ich habe den von mir entworfenen Fragebogen in meinem Bekanntenkreis verteilt und nach und nach immer mehr Rückmeldungen bekommen. Es hat zwar ein paar Wochen gedauert, aber ich habe dann viele unterschiedliche Frauen erreicht, die sehr offen von sich erzählen. Das Buch ist zwar nicht repräsentativ, aber es kommen Frauen mit den unterschiedlichsten Berufen zu Wort, solche, die ungewollt kinderlos sind und andere, die sich bewusst dafür entschieden haben. Diese Vielfalt zu zeigen, das war mir wichtig.

Alle, die freiwillig auf Kinder verzichtet haben, sind aber vermutlich mit ihrer Lebenssituation zufrieden. Warum gibt es bei dieser Gruppe trotzdem Gesprächsbedarf?

Doris Wallraff hat 50 kinderlose Frauen interviewt und darüber ein Buch geschrieben.

Doris Wallraff hat 50 kinderlose Frauen interviewt und darüber ein Buch geschrieben. © privat

Viele leiden sehr darunter, dass alles, was sie tun, in eine Schublade gesteckt wird. Der niedliche Hund, den sie haben, das Motorrad, das sie fahren, die Karriere, die sie machen: Das alles wird in Verbindung mit der Kinderlosigkeit gebracht. "Das macht sie, weil sie keine Kinder hat." Dieser Gedanke schwingt aus der Erfahrung der Betroffenen heraus immer mit. Sie werden reduziert auf ihre Kinderlosigkeit. Viele ärgern sich auch darüber, dass sie bei bestimmten Themen nicht für voll genommen werden, dass man ihnen nicht zutraut, zu Erziehungs- oder Bildungsthemen etwas sagen zu können. Und dann ist da noch das Image der egoistischen Frau, die auf Kinder verzichtet, um sich ein schönes Leben zu machen.


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Warum ist das so? Wieso sind Frauen- und Mutterrolle offenbar immer noch so eng verknüpft?

Das hat tatsächlich einen kulturhistorischen Hintergrund. Jahrhundertelang war das Frausein immer mit der Mutterrolle verknüpft, es galt als natürliche Bestimmung der Frau, eine Mutter zu sein. Bis heute meinen viele, Mutter zu sein, sei die bedeutsamste Erfahrung im Leben einer Frau. Mutterschaft ist eine heilige Kuh, Babys werden engelsgleich glorifiziert, Elternsein mit Erfüllung und Glück verwechselt. Deshalb haben Frauen bis heute das Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen, wenn sie keine Kinder haben. Für Frauen, die eigentlich gerne Nachwuchs gehabt hätten und keinen bekommen konnten, macht das die Situation noch schlimmer.

Was sind denn die Hauptgründe für die Kinderlosigkeit? Ist es bei den meisten eine freiwillige Entscheidung oder ein unfreiwilliger Verzicht?

Direkte Zahlen dazu gibt es nicht. Relativ häufig bleiben Frauen kinderlos, weil sich solche grundsätzlichen Lebensentscheidungen immer weiter nach hinten verschieben. Und viele Menschen wissen immer noch nicht, dass die Fruchtbarkeit bereits mit Mitte 20 abnimmt. Die Chance, mit Ende 30 oder Anfang 40 noch Mutter zu werden, ist selbst mit Hilfe der Reproduktionsmedizin relativ gering. Neben solchen biologischen Gründen spielen bei manchen Frauen auch schlechte Erfahrungen in der eigenen Kindheit eine Rolle. Sie trauen sich einfach nicht zu, eine gute Mutter zu sein. Und bei den Jüngeren gibt es einige, die sich gegen Nachwuchs entscheiden, weil sie sagen, dass es ohnehin schon zu viele Menschen auf der Erde gibt. In meinem Buch ist das aber kein Thema.


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Wie sehr leiden die Männer unter dieser Situation? In ihrem Buch kommen die verhinderten Väter nicht vor.

Das ist richtig, um die Männer geht es bei mir nicht. Natürlich leiden auch sie sehr unter ungewollter Kinderlosigkeit. Aber wenn es um gesellschaftliche Rollen geht, dann werden sie viel seltener mit dem Thema konfrontiert. Sie müssen sich für ihren Lebensentwurf selten rechtfertigen. Frauen dagegen schon. Und eine Trendwende ist nicht in Sicht, im Gegenteil: Der Aussage "Kein Kind zu haben, gilt in unserer Gesellschaft als Makel" stimmten vor acht Jahren nur 20 Prozent der ungewollt kinderlosen Frauen zu, 2020 dagegen fast 40 Prozent. "Mütter werden nicht gefragt, warum sie Kinder haben", dieser Satz einer meiner Gesprächspartnerinnen zeigt, wie starr die Rollenzuschreibungen immer noch sind.

Was müsste sich denn ändern, damit der Umgang mit dem Thema unbefangener und weniger einseitig wird?

Menschen mit Kindern sollten Kinderlose nicht ungeniert schon beim ersten oberflächlichen Kontakt nach ihrer familiären Situation befragen, weil sie damit nämlich manchmal den Finger in eine ganz tiefe Wunde legen. Mütter sollten mit ihren kinderlosen Freundinnen auch über andere Themen als den eigenen Nachwuchs reden - bestenfalls ist das sonst für die andere langweilig, schlimmstenfalls sehr schmerzhaft. "Ich habe es geschafft, Freundschaften mit Müttern zu halten." Auch dieser Satz einer Betroffenen zeigt, wie schwierig der Umgang miteinander immer noch ist. Dabei gibt es so viele Wege, ein glückliches Leben zu führen und Kinder sind keine Garantie dafür, dass das gelingt. "Man sollte etwas mit sich anzufangen wissen." Dieser Satz aus einem der Interviews bringt es eigentlich gut auf den Punkt. Es kommt darauf an, was man aus seinem Leben macht und nicht, ob man Kinder hat. Kinderlosigkeit ist ebenso mit Licht und Schatten verbunden wie die Mutterschaft.

Doris Wallraff ist Psychologin. In ihrer Praxis in Nürnberg berät die systemische Familientherapeutin Paare mit unerfülltem Kinderwunsch. Sie selbst ist dreifache Mutter. Über das Leben ohne Kind hat die 49-Jährige das Buch "Fünfzig Frauen, kein Kind" geschrieben, erschienen im Rmd Verlag.

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