Kälte und Mitleid

Blick in Nürnbergs Obdachlosen-Szene: Wie ein Wohnungsloser mit Hilfsangeboten überschüttet wird

23.1.2017, 07:25 Uhr
Die Schrammen hat André von einem Überfall in der Nacht - Fremde wollten ihn beklauen.

© Julia Ruhnau Die Schrammen hat André von einem Überfall in der Nacht - Fremde wollten ihn beklauen.

Es begann mit einem simplen Post auf Facebook: Auf einem Foto sieht man André, 41 Jahre alt, sechs Kinder, wohnungslos, mit einem blauen Auge und blutverkrusteten Brauen. Sie stammen von einem nächtlichen Kampf, Fremde wollten ihn an seiner Schlafstätte beklauen, es kam zur Schlägerei. Der Post entstand im Rahmen von Straßen-Weise (hier geht's zum Facebook-Profil), einem Online-Projekt der Volontäre von Nürnberger Nachrichten und Nürnberger Zeitung, für das André interviewt wurde.

André ist ein schmaler, mittelgroßer Mann mit einem Gesicht, das aussieht, als ob er gerne lacht. Vor gut zwei Jahren hat André sich nach 20 Jahren Ehe von seiner Frau getrennt, weil die einen anderen kennengelernt hatte. André zahlt Unterhalt, deswegen bleiben ihm von seinem Verdienst als Sanitär- und Heizungsinstallateur nur 800 Euro im Monat. Zu wenig, um sich eine Wohnung zu leisten, Lebensmittel zu kaufen und trotzdem hin und wieder mit seinen Kindern ins Schwimmbad zu gehen oder ihnen einen Kinoabend zu zahlen. Das alles erzählt er mit rauer, kratziger Stimme. Die eisige Winterluft, die er Tag für Tag im Freien atmet, macht aus den Stimmbändern Reibeisen.

Nachdem seine Geschichte veröffentlicht ist, melden sich Hunderte Leute, teilen den Eintrag, bieten Hilfe an. Einige fragen nach, warum André überhaupt Unterhalt zahlen muss, wenn er nur wenig verdient. Wie sie ihm helfen können. Und wie es sein kann, dass in einem reichen Land wie Deutschland Leute auf der Straße leben müssen. Darauf gibt es keine endgültigen Antworten. Aber einige Erklärungen.

Conny (rechts) hat die Platte an der Wöhrder Wiese vor acht Jahren gegründet.

Conny (rechts) hat die Platte an der Wöhrder Wiese vor acht Jahren gegründet. © Julia Ruhnau

André ist seit sechs Monaten auf Platte, in der Nähe der Wöhrder Wiese, einem Ort, wo mehrere Wohnungslose ihr Lager aufgeschlagen haben. Ihr Anführer ist Conny, 63 Jahre alt, zwei einsame Zahnstummel ragen wackelig aus seinem Unterkiefer. Nach einem Lungenriss soll für ihn Schluss mit dem Straßenleben sein, der Körper kann nach acht Jahren und zu vielen kalten Nächten im Freien nicht mehr. "Ich war zu faul, um eine Wohnung zu suchen, da bin ich ganz ehrlich", erklärt Conny, warum er die letzten Jahre auf der Straße verbracht hat.

Auf der Platte herrscht Ordnung

Nun, da er sich wieder eine Wohnung suchen will, hat Conny die Platte Cobra "überschrieben", wie er es nennt, auf einem Blatt Papier, als ob das Refugium ein Grundstück wäre. Cobra, der eigentlich auch André heißt, ist ein großer, breiter Mittvierziger mit rotem Schnauzer. Er soll das Lager in Zukunft in Ordnung halten, "aufräumen, sauber machen, wie ich das die letzten Jahre getan habe", sagt Conny. Wenn schon das Leben unaufgeräumt ist, soll wenigstens der Schlafplatz ordentlich sein.

Der andere André wurde von beiden freundlich aufgenommen. Letztes Jahr hatte er noch eine Wohnung, dann wurde saniert und die Miete erhöht, um 200 Euro. Zu viel für ihn. Mit seinen Gehaltszetteln habe er auf Wohnungssuche kein Glück gehabt, viele hätten abgewinkt, sobald sie darauf die Unterhaltspfändung entdeckten. Nun muss er sich nachts gegen Überfälle wehren. In den letzten Nächten kam regelmäßig eine Gruppe Männer auf Raubzug vorbei, teilweise mit Messern bewaffnet. Seit kurzem haben André und seine Freunde einen Hund, Johnny, den eine Bekannte vorbeigebracht hat. Der soll nun nachts Wache halten.

Die Einrichtung der Platte unterscheidet sich nicht von anderen WGs: Sticker, Uhr, Pin Up-Kalender.

Die Einrichtung der Platte unterscheidet sich nicht von anderen WGs: Sticker, Uhr, Pin Up-Kalender. © Julia Ruhnau

Selbst gewähltes Schicksal

Waren er und die anderen nicht hartnäckig genug? Haben sie nicht genug versucht, um eine Wohnung zu finden? Gibt es nicht Hilfsangebote, Sozialarbeiter, Streetworker, die Menschen wie ihm unter die Arme greifen können? Was von den Erzählungen der Männer stimmt, welche Teile Selbstmitleid, Alkoholkonsum, Übertreibung geschuldet sind, lässt sich kaum überprüfen. Es ist in Teilen ein selbst gewähltes Schicksal, für das sie sich entschieden haben.

Auch andere haben wenig

Hin und wieder kommt Hilfe von Passanten, vor allem seit dem Facebook-Post. Sie bringen Essen, Decken, Batterien. "Was wir übrig haben, geben wir bei der Heilsarmee ab", erklärt André. Sie seien schließlich nicht die Einzigen, die wenig haben. Über die plötzliche Aufmerksamkeit freuen er und seine Kumpels sich sehr: "Ich möchte einen recht herzlichen, lieben Dank an alle Menschen schicken", betont André etwas unbeholfen, aber eindringlich.

Ein Lichtblick, immerhin. Eine Lösung ist es nicht. Nachts frieren auf der Platte weiterhin die Getränke ein. Es wird mit der Zeit nicht leichter, nach Monaten, Jahren auf der Straße eine Wohnung zu finden. Und es wird nicht leichter, die Motivation für die langwierige Suche zu finden. Ihre Geschichte erzählen die Männer von der Wöhrder Wiese trotzdem gerne – jedem, der zuhören möchte.

Von den Wohnungslosen, mit denen wir gesprochen haben, sind nur die Vornamen genannt. Das hat nichts mit mangelndem Respekt zu tun. Die Gruppenmitglieder sprechen selbst über sich nur mit Vor- oder Spitznamen und möchten auch so zitiert werden.

Wer helfen will, mit Spenden oder ehrenamtlicher Untersützung, kann das zum Beispiel hier tun: Stadtmission, Nürnberger Tafel, Caritas, Heilsarmee. Übergeordnete Infos zum Ehrenamt gibt es hier.

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