Kommentar: Kriegserklärung an jüdisches Leben in Deutschland

11.10.2019, 06:00 Uhr

An Jom Kippur, auch das gewiss kein Zufall, hatten 1973 die arabischen Nachbarn Israel den Krieg erklärt. Der Anschlag von Halle ist nichts anderes als eine Kriegserklärung an jüdisches Leben in Deutschland.

So weit die schlimmen Fakten eines Attentats, das nicht nach den üblichen Betroffenheitsritualen in Vergessenheit geraten darf.

Wenn in Deutschland, dem Land, das für den Holocaust verantwortlich zeichnet, an Jom Kippur versucht worden ist, einen Massenmord an gläubigen Juden zu inszenieren, müssen sämtlich Alarmglocken läuten.

Denn diese Tat wirft alles bisher Dagewesene über den Haufen, sie beendet im Grunde ein im Wertesystem dieser Republik lange Zeit unangefochten geltendes Zwei-Worte-Gebot: Nie wieder. Konkret: Nie wieder darf sich in Deutschland Antisemitismus ausbreiten. Nie wieder: Diese Worte müssen in den Ohren jüdischer Mitbürger derzeit wie blanker Hohn klingen. Schließlich ist seit geraumer Zeit ein besorgniserregender Anstieg an antisemitischen Schmähungen und Beleidigungen, vereinzelt auch an gewalttätigen Übergriffen auf jüdische Mitbürger, festzustellen.

Der Attentäter von Halle hat die letzte Tabugrenze überwunden. Indem er ganz gezielt jüdisches Leben ausrotten wollte. Jetzt gibt es kein Tabu mehr – Juden in Deutschland müssen um ihr Leben fürchten. Unfassbar, aber wahr.

Zynische Aussagen

Umso zynischer muten am Tag nach der schrecklichen Tat Aussagen an, wie sie etwa ein Polizeigewerkschafter getätigt hat. Es könnten nicht alle Gotteshäuser geschützt werden, dazu mangele es an Personal. Was reitet einen Menschen, so etwas zu sagen?

Selbstverständlich müssen alle Synagogen geschützt werden, zumal wenn aus der Gemeinde heraus, wie dies in Halle der Fall war, darum gebeten worden war.

Selbstverständlich muss alles Menschenmögliche getan werden, um weitere Anschläge zu vermeiden. Doch es genügt bei weitem nicht, Stätten jüdischen Lebens im Blick zu haben.

Die sehr oberflächliche Debatte über den aufkeimenden Antisemitismus in Deutschland muss an Tiefe gewinnen, sie muss herausgeführt werden aus den Hinterzimmern, in denen Antisemitismusbeauftragte von Bund und Ländern sich austauschen.

Ins Herz der Gesellschaft

Diese Debatte muss hinein in die Parlamente und auch das Herz der Gesellschaft.

Ein umfassendes Bekenntnis für jüdisches Leben in Deutschland ist dringend geboten, die Menschen müssen nicht nur für den Klimaschutz auf die Straße gehen, sondern auch, um mit ihren Nachbarn Solidarität zu zeigen. Ob es dabei besonders hilfreich ist, der AfD eine Mitverantwortung an dem Attentat zuzuweisen, wie dies der bayerische Innenminister Joachim Herrmann getan hat, muss hingegen bezweifelt werden.

Denn die AfD besteht eben nicht aus lauter Antisemiten, zu Recht verwahrt sich deren Parteichef Alexander Gauland gegen eine solche Stigmatisierung. Richtig ist, dass auch einige AfD-Vertreter zu den geistigen Brandstiftern im Lande zählen. Dieser extremen Gruppierung muss der Schneid abgekauft werden. Die Unbelehrbaren, die seit langem eine völkische, rechtsextremistische und antisemitische Saat ausbringen, sind tatsächlich für das Attentat von Halle mitverantwortlich.

Hier muss künftig deutlicher und vernehmbarer reagiert werden. Die politische Bildung und die politischen Akteure sind gleichermaßen gefragt. Denn die These vom Einzeltäter ist längst unhaltbar geworden. Gleich, ob der mutmaßliche Täter von Halle Komplizen hatte oder nicht, er konnte sich seiner Sache sicher sein.

Wenn ein mit einem Messer bewaffneter Mann, der offenkundig eine Synagoge in Berlin überfallen wollte, nicht einmal festgenommen wird, lockt das andere, noch grausamere Gesinnungsgenossen unter Umständen sogar noch aus der Deckung.

Weitere Bluttaten verhindern

Äußerste Konsequenz auch von Ermittlungsbehörden und Justiz sind deshalb dringend geboten, eine Verschärfung des Strafrechts sollte überdacht werden. Denn immer mehr Extremisten sind schwer bewaffnet, weitere Bluttaten also zu befürchten. Das muss unter allen Umständen verhindert werden.

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