Kreiselnde "Elefantenklos" halten Fußgänger auf Abstand

23.8.2011, 17:18 Uhr
Kreiselnde

© Gerardi

Das Schlagwort „Autogerechte Stadt“, mit dem sich Befürworter wie Gegner gleichermaßen bekämpften, ist auf einen Buchtitel des Architekten Hans Bernhard Reichow (1899–1974) aus dem Jahr 1959: „Die Autogerechte Stadt – Ein Weg aus dem Verkehrschaos“ zurückzuführen.

„Seit einem halben Jahrhundert haben wir nun Autos. Doch immer noch quälen sie sich durch Straßen, die einst für Reiter, Sänften, Esel- und Pferdegespann gebaut wurden“, klagt Reichow in seinem Buch. „Wir bessern und flicken an einem vor Jahrtausenden entstandenen Stadtstraßennetz ziellos herum, weil uns die Vorstellung eines dem Menschen und dem Auto gerecht werdenden idealen Straßensystems und seines optimalen Knotenpunkts fehlt. Das heißt, den Verkehrsablauf, die Straßenplanung, die Verkehrsordnung, -erziehung und -lenkung nach menschlichem Verhalten, nach menschlichem Auffassungs- und Reaktionsvermögen als Einheit sehen und dafür das autogerechte Verkehrssystem mit allen seinen städtebaulichen Konsequenzen entwickeln.“

Die Konsequenzen lassen sich in beinahe jeder deutschen Großstadt bestaunen – und beklagen. Schnellstraßen zerschneiden über Jahrhunderte gewachsene Stadtviertel wie in Köln; Hannover wurde gar ein komplett neues Straßennetz übergestülpt. Ziel war es, Autos, Radler und Fußgänger zu „entmischen“, jeder Verkehrsteilnehmergruppe eigene Räume zuzuweisen. Fußgänger und Radler wurden an den Rand gedrängt, auf enge Wege verbannt, und konnten die breiten Straßen nur mittels Brücken oder Unterführungen queren.

In Stuttgart wollte Architekt Paul Bonatz gar den Schlossgarten für eine Stadtautobahn opfern. Das wurde zwar verhindert, dafür durchschneidet die Hauptstätter Straße die Stadt in Längsrichtung. Die Paulinenbrücke isoliert die Marienkirche und mündet in den Österreichischen Platz. Der aber ist gar kein Platz mehr, sondern ein Vakuum, um das herum Autos kreiseln und jeden Passanten auf Abstand halten (im Architektenjargon „Elefantenklo“ genannt).

Die ersten Schneisen hatten bereits die alliierten Luftangriffe in die deutschen Großstädte geschlagen. Beim Wiederaufbau fasste man zwar bereits breitere Straßen ins Auge. Doch die eigentliche Abriss- und Zerstörungswut setzte erst mit der Massenmotorisierung in den späten 50er und frühen 60er Jahren ein.

Die Folge: Nicht allein zerstörte Strukturen beeinträchtigten die Städte, sondern vor allem eine Zunahme der Verkehrsunfälle innerorts. Denn trotz der anvisierten Trennung von Autos, Radlern und Fußgängern waren Treff- und Überschneidungspunkte zwischen Verkehrsteilnehmern unvermeidbar.

Erste Kritik meldete bereits 1963 der Engländer Colin Buchanan mit seinem Report „Traffic in Towns“. Buchanan unterschied erstmals zwischen notwendigem und beliebigem Autoverkehr. „Notwendig“ waren sämtliche Versorgungsfahrzeuge, „beliebig“ hingegen der Individualverkehr. Buchanan plädierte für eine Rückdrängung des Autoverkehrs und für die Stärkung der Fußgänger. Zum Beispiel in Gestalt der Fußgängerzone in der Innenstadt.

Das eigentliche Umdenken setzte erst in den 70er Jahren ein, als die Stadtväter, die alles so gut gemeint hatten, vor dem angerichteten Schaden standen. Autogerecht ist nicht gleichbedeutend mit menschengerecht, ganz im Gegenteil. Von der „Unwirtlichkeit der Städte“ klagte Alexander Mitscherlich bereits 1965.

Aber man muss gar nicht einmal auf hohem psychologisch-philosophischen Niveau klagen, es geht auch viel anschaulicher: 1973 veröffentlichte der Schweizer Kinderbuchautor Jörg Müller zwei Bilderbücher: In „Alle Jahre wieder saust der Presslufthammer nieder“ beschreibt Müller in einer Bilderserie, wie binnen zwanzig Jahren eine Landschaft am Stadtrand mit Häuschen, Wiese und Teich schrittweise von Industrieanlagen, Straßen und einer Autobahn verändert und schließlich zerstört wird. Dasselbe Schicksal teilt ein Stadtviertel in „Hier fällt ein Haus, dort steht ein Kran und ewig nagt der Baggerzahn“. Wie in einem Wimmelbild entdeckt der Betrachter Detail um Detail und studiert, wie schleichend sich die Umwandlung vollzieht. Jörg Müllers Bücher markierten ein Umdenken und auch einen Bruch innerhalb der Architektengenerationen: Als ein Architekturdozent Müllers Bücher als beispielhaft für modernen Städtebau vorstellte, erntete er harschen Protest von seinen Studenten.

Und Nürnberg? Das hatte noch Glück gehabt mit seinem Wiederaufbau, der die Grundstruktur der Altstadt unangetastet ließ. Statt Stadtautobahnen favorisierte man den Ausbau der U-Bahn. Dafür schüttete man den Ludwig-Donau-Main-Kanal zu und klotzte den Frankenschnellweg hin. Dennoch hat auch Nürnberg autogerechte Torheiten: Wo heute am Stresemannplatz vor dem Metropolis-Kino Autos parken, stand früher ein Hausblock aus der Gründerzeit. Den hatte man 1966 abgerissen, um die Bauvereinstraße zu verbreitern. Das Projekt blieb jedoch stecken, die intakten Häuser waren völlig umsonst in Schutt und Asche gefallen.

Ironie der Geschichte: Hans Reichow (der auch die Carl-von-Ossietzky-Schule errichtete) starb 1974 in Bad Mergentheim. Ein Kurort, in dem Fußgänger, Radler und Autos harmonisch miteinander auskommen.

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