Lebensretter in Lebensgefahr: Nürnberger Sanitäter berichtet über Gewalt im Einsatz

16.4.2021, 05:45 Uhr
Rettungskräfte sind immer öfter das Ziel von verbalen und körperlichen Übergriffen, wie die gestellte Situation im Bild zeigt. Ende März wurde ein Team des Bayerischen Roten Kreuz in Nürnberg massiv angegriffen.

© Wolfgang Bellwinkel / DGUV, NN Rettungskräfte sind immer öfter das Ziel von verbalen und körperlichen Übergriffen, wie die gestellte Situation im Bild zeigt. Ende März wurde ein Team des Bayerischen Roten Kreuz in Nürnberg massiv angegriffen.

Seit sechs Jahren ist René K. Rettungssanitäter beim Bayerischen Roten Kreuz (BRK) in Nürnberg. Er ist zufrieden, arbeitet in einem "schönen Berufsfeld", wie er sagt. Doch das, was K. mit seiner Kollegin am 25. März 2021 erleben musste, lässt ihn nicht mehr los.
Es ist 13.29 Uhr, da kommt ein Funkspruch: Ein Apotheker sorgt sich um eine Person, die an den Sebalder Höfen bewusstlos am Boden liegt. K. macht sich mit seiner Kollegin auf den Weg. Dort angekommen sprechen die beiden den Mann an und wecken ihn schließlich auf. Der Patient reagiert aggressiv. "Wir forderten vorsorglich eine Polizeistreife an", berichtet der 31-Jährige.

Zum eigenen Schutz die Türen verriegelt

Die Lage spitzt sich zu: Der Mann geht auf die Sanitäterin los, schlägt ihr auf den Arm. Die beiden Helfer ziehen sich in den Rettungswagen (RTW) zurück und verriegeln die Türen. Davor tobt jetzt der Patient, schreit auch Passanten an. Mit der Faust und einer Bierflasche drischt er auf den RTW ein, die beiden Helfer im Wagen setzen einen zweiten Notruf ab. Der Patient beruhigt sich nicht, bringt sich immer mehr in Rage und droht den beiden lautstark, sie umbringen zu wollen.

Jetzt schlägt er den Kopf gegen die Scheibe auf der Beifahrerseite – nur wenige Zentimeter von K.s Kollegin entfernt. Sie zählen sechs Kopfstöße. "Wir hörten schon, wie die Scheibe knackst. Zum Glück ist sie nicht gebrochen", erzählt René K. Dann lässt der renitente Mann von den Sanitätern ab, er zieht davon, wirft noch Räder und Roller um. Kurz darauf fasst ihn eine Polizeistreife und nimmt ihn in Gewahrsam. Ein Alkoholtest ergab: Er hatte 2,36 Promille im Blut.

"Wir haben alles richtig gemacht"

Derzeit läuft ein Strafverfahren gegen den Täter, der sich wegen Bedrohung, Körperverletzung und Sachbeschädigung strafrechtlich verantworten muss. "Es war ein Schockmoment. Der Vorfall hat uns beide sehr mitgenommen. Wir sprachen mit Kollegen darüber und mit unserer Wachleitung. Uns wurden auch Gesprächstherapien angeboten", schildert K. Die beiden fragten sich immer wieder, ob sie denn alles richtig gemacht haben. "Wir wurden aber immer wieder darin bestärkt, dass wir alles richtig gemacht haben."
Sie fragen sich das auch deshalb, weil Rettungskräfte in solchen Situationen deeskalieren sollen. Das ist allerdings oft nicht möglich, wenn der Patient alkoholisiert ist oder unter Drogeneinfluss steht. "Bei 80 Prozent unserer Einsätze sind Drogen, Alkohol oder Medikamente im Spiel. Das ist traurig und in Nürnberg ein echtes Problem", sagt K.

Stichschutzwesten hängen im Schrank

Übergriffe auf Rettungskräfte sorgen seit Jahren für Schlagzeilen. Weil Lebensretter auch immer wieder in Lebensgefahr geraten, hatten sich bereits vor zehn Jahren Kräfte des BRK Nürnberg Stichschutzwesten zugelegt. Auslöser war ein Einsatz, bei dem zwei Helfer mit einem Messer bedroht wurden. Heute hängen die Westen im Schrank. "Die Euphorie hat nachgelassen. Es hat sich gezeigt, dass sie im Einsatz hinderlich sind", erklärt Klaus Trump, Wach-Leiter in Nürnberg. Das Risiko vor Übergriffen im Dienst hat aber nicht abgenommen. Im Gegenteil. "Die Aggressivität nimmt definitiv zu. Immer häufiger müssen wir bei Einsätzen die Polizei hinzuziehen", stellt Rettungssanitäter K. fest.

Das scheint auch eine aktuelle Umfrage unter Mitarbeitern zu belegen, die das Deutsche Rote Kreuz in Auftrag gegeben hatte. "Die Ergebnisse sind erschreckend. Wir müssen leider feststellen, dass Beleidigungen, Beschimpfungen und auch körperliche Übergriffe mittlerweile zum Alltag im Rettungsdienst gehören", so DRK-Präsidentin Gerda Hasselfeldt in einer Pressemitteilung. 425 Personen im Rettungsdienst füllten Fragebogen aus und berichteten über ihre Erfahrung zu Gewalt in Einsätzen. Das kam dabei heraus: 40,3 Prozent sind ausschließlich von verbaler Gewalt betroffen gewesen, etwa ein Drittel beschreibt sowohl verbale als auch körperliche Angriffe. 14,1 Prozent nennen ausschließlich körperliche Übergriffe. Die Täter sind in drei Viertel der Fälle die Patienten selbst.

Spucken, beißen, kratzen

In einer separaten Auswertung des Bayerischen Roten Kreuz von 2019 gaben Rettungskräfte an, dass Auseinandersetzungen bei Rettungseinsätzen regelmäßig vorkommen. Gewalt gegen Rettungskräfte zeigt sich durch Schlagen und Treten (22 Prozent), Androhung von Gewalt (22), Beleidigung (23), Anspucken (7), Beißen und Kratzen (7), Wegschubsen (9), Angriff mit Gegenstand (3), Würgen (2) und Androhung von Waffengewalt (1).

Der Eigenschutz der Mitarbeiter hat bei den Hilfsorganisationen wie auch bei der Polizei höchste Priorität. Vieles kann schon während der Anfahrt zum Einsatzort geklärt werden, indem die Helfer schon mal im Meldebild über Funk das mögliche Gefahrenpotential ausloten. Bei bestimmten Stichwörtern wird die Polizei sofort hinzugezogen. Doch die eigentlichen Risiken stecken in Situationen, die zunächst einmal eher harmlos aussehen – wie beim Einsatz von René K. und seiner Kollegin.

Die meisten verzichten auf eine Anzeige

Am Einsatzort angekommen, müssen Rettungskräfte die Lage erst einmal sondieren. "Gefahren müssen sie frühzeitig erkennen und sich dann gegebenenfalls zurückziehen", sagt BRK-Sprecher Sohrab Taheri-Sohi gegenüber der Redaktion. "Bei jedem Einsatz wird die Lage, Umgebung oder Räumlichkeit mit allen Sinnen gescannt. Der Geruchssinn ist beispielsweise geschärft, falls irgendwo Gas austritt. Liegen Spritzen herum oder ein Messer auf dem Esstisch? Potenzielle Gefahren werden auf diese Weise erkannt." Dann nehmen die Helfer die Personen in den Blick. "Man schaut, wie es demjenigen geht und in welcher Stimmungslage er oder sie ist", erklärt Taheri-Sohi.

Doch aus der DRK-Studie geht auch hervor, dass Rettungskräfte nach einem Übergriff in den meisten Fällen auf eine Anzeige verzichten. In Bayern haben sogar zwei Drittel der Betroffenen keine Anzeige erstattet. Für Taheri-Sohi ist das auch ein starkes Indiz dafür, dass die Dunkelziffer der Übergriffe noch viel höher liegt. "Die meisten sagen: ,Es bringt eh nichts‘." Laut der Umfrage sind viele Rettungskräfte enttäuscht, dass die meisten Verfahren, sofern Anzeige erstattet wurde, von den Gerichten eingestellt werden.

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