Nach Hanau: "Ich fühle mich in Deutschland nicht mehr sicher"

19.2.2021, 07:15 Uhr
Unter der Friedensbrücke in Frankfurt erinnert ein 27 Meter langes Gedenk- Graffiti an die Opfer des Attentats in Hanau am 19. Februar 2020.

© ARMANDO BABANI, AFP Unter der Friedensbrücke in Frankfurt erinnert ein 27 Meter langes Gedenk- Graffiti an die Opfer des Attentats in Hanau am 19. Februar 2020.

Sie haben Hanau als Ihr persönliches 9/11 beschrieben. Wie fühlen Sie sich jetzt, wenn das Datum sich zum ersten Mal jährt?

Sham Jaff: Natürlich ist dieser Vergleich metaphorischer Natur. Aber ich fühle immer noch sehr viel Wut und Trauer. Der rechtsterroristische Anschlag am 19. Februar 2020 war nicht nur eine Zäsur für mich, sondern auch für viele andere junge Menschen in Deutschland. Der Kampf gegen Rassismus und Rechtsextremismus kann nur gelingen, wenn wir ihn als eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe betrachten.

Wissen Sie noch, wo sie waren, als Sie von der Nachricht gehört haben?

Sham Jaff: Ich war in Oslo, meine Großeltern besuchen. Am nächsten Morgen hat mir eine Freundin davon in einer Sprachnachricht erzählt. Sie hat drei Minuten lang darin geweint. Dass der Attentäter gezielt Menschen erschossen hat, die so aussehen wie ich, das hat mich extrem mitgenommen. Mein erster Gedanke war: Ich, mit meinen braunen Haaren und braunen Augen, fühle mich in Deutschland nicht mehr sicher.


Kommentar: Aus Hanau genug gelernt?


Die Medienberichte nach Hanau

Kurz nach dem Anschlag legte die Corona-Pandemie das öffentliche Leben lahm und dominierte fortan die Nachrichten. Wie empfanden Sie die damalige Berichterstattung "nach" Hanau?

Sham Jaff: Einerseits hat es mich gefreut, dass die meisten Medien relativ schnell von einem rassistisch motivierten rechtsterroristischen Anschlag redeten. Andererseits haben einige Medien unmittelbar wenige Stunden nach der Tatnacht sehr verfrühte und pauschalisierende Aussagen gemacht, zum Beispiel, ob es sich doch nicht um die sogenannte Spielautomatenmafia handle. Das ist meiner Meinung nach sehr gefährlich.

Sham Jaff, 31, ist Journalistin, Politikwissenschaftlerin und Podcasterin. 

Sham Jaff, 31, ist Journalistin, Politikwissenschaftlerin und Podcasterin.  © Yasmine Asha

Sie twitterten neulich: Antirassismus als Schulfach. Welche Kernkompetenzen würden Sie SchülerInnen als Lehrerin in diesem Fach gerne mit auf den Weg geben?

Sham Jaff: In meinem Ehrenamt als Wertebotschafterin bei der Bildungsinitiative GermanDream habe ich letztes Jahr mit vielen Jugendlichen an unterschiedlichen Schulen über strukturellen Rassismus gesprochen und gemerkt: Gerade an Schulen muss deutlich mehr Aufklärungsarbeit geleistet werden.

Was ist Rassismus? Wie ist er entstanden, wo zeigt er sich überall und wie schaffen wir ihn aus unserer Gesellschaft? Als Lehrerin würde ich meinen Schülerinnen und Schülern daher drei Kernkompetenzen gerne mitgeben: Zivilcourage, Solidarität und kritisches Denkvermögen.


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Sie haben sich ein Jahr intensiv mit dem Thema befasst und sich mit vielen ExpertInnen unterhalten. Wie können Sie die Arbeit zum Spotify-Podcast "190220- Ein Jahr nach Hanau" beschreiben?

Sham Jaff: Wir haben uns für diesen Podcast dazu entschieden, mit zwei Ebenen – emotional und analytisch – zu arbeiten. Die erste Ebene ist die Reportage-Ebene. Dafür ist meine Kollegin Alena Jabarine Ende letzten Jahres nach Hanau gefahren und hat vor Ort mit Angehörigen und Betroffenen gesprochen.

Die zweite Ebene baut direkt darauf auf. Dort haben wir den rechtsterroristischen Anschlag in einen größeren Kontext setzen wollen. Es geht uns in diesem Podcast ja nicht nur darum, was am 19. Februar 2020 passiert ist, sondern auch um die Frage: Was macht das mit unserer Gesellschaft?


Knapp 3000 Menschen demonstrieren vor Jahrestag von Hanauer Anschlag


Viele Fragen sind noch offen

Haben Sie Antworten gefunden? Was ist die Erkenntnis?

Sham Jaff: Warum kämpfen die Familien so sehr? Wie lief der Tatabend ab und was ist schief gelaufen? Was wussten die Behörden und was nicht? Wie geht das Leben in Hanau weiter? Was hat der Anschlag mit der jungen Generation gemacht? Wer waren die neun jungen Menschen? Das sind alles Fragen, auf die wir im Podcast Antworten bieten.

Es gibt aber noch sehr viele offene Fragen. Beispielsweise, wieso war der Attentäter nicht als rechtsextremer Gefährder bekannt? Wieso war der Notruf in der Tatnacht nicht durchgehend und ausreichend besetzt? Oder wieso wurden die Leichen der Opfer ohne die Einwilligung der Familienangehörigen obduziert? Weil die Ermittlungsarbeiten noch am Anfang stehen, können wir diese und noch viele weitere wichtige Fragen nur anreißen und nicht abschließend beantworten.

Können wir etwas aus Hanau lernen?

Sham Jaff: Selbstverständlich können wir viel aus Hanau lernen. Wir können lernen, dass Rassismus töten kann und dass der Rechtsextremismus in Deutschland eine große Bedrohung ist – und das nicht nur seit Hanau. Wir können auch von Hanau lernen, dass der rechtsterroristische Anschlag uns alle betrifft und nicht nur Menschen, die einen sogenannten Migrationshintergrund oder eine Migrationsgeschichte haben.

Aber ob wir wirklich aus Hanau lernen werden, das liegt an uns allen. Deutschland braucht endlich einen nachhaltigen und effektiven Umgang mit dem Rechtsextremismus und den Rassismus in diesem Land.


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Aus Ihrer Sicht, mit all dem Hintergrundwissen: Hätte Hanau verhindert werden können?

Sham Jaff: Abschließend kann man das natürlich nie sagen. Der Täter hätte sich zum Beispiel auch illegal Waffen besorgen können. Aber was man sagen kann: Er hat sich nicht versteckt.

Er war nicht unbekannt und er hat sein Weltbild in die Öffentlichkeit und eben direkt in die Behörden getragen. Eine diagnostizierte paranoide Schizophrenie, legaler Besitz Waffen und verschwörerische und rassistische Ansichten – wir können nur hoffen, dass da wenigstens in Zukunft die Alarmglocken bei den zuständigen Behörden angehen.

Was hat sich seit dem 19.02.2020 in Deutschland verändert?

Sham Jaff: Für die Angehörigen und Überlebenden in Hanau hat sich alles verändert. Ihr Leben wir nie wieder sein wie vorher. Wir haben in Hanau mit einem Freund der Opfer gesprochen, der sagt, er hat die Spaltung im Land jetzt akzeptiert.

Auch für Menschen außerhalb von Hanau, die von Rassismus betroffen sind, war der Anschlag eine Zäsur. Sie fühlen sich seitdem nicht mehr sicher. Gleichzeitig hat sich für viele Menschen gar nichts verändert. Sie finden es schlimm, was passiert ist, aber es betrifft sie nicht. Das ist auch eine Erkenntnis des Podcasts. Dabei geht Hanau alle etwas an.