"Penis-Amputation": Intersexuelle verklagt Uni-Klinik Erlangen

14.2.2019, 09:56 Uhr

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Im Dezember 2018 beschloss der Bundestag eine dritte Antwortmöglichkeit im Personenstandsregister. Eltern, deren Kinder keine eindeutigen Geschlechtsmerkmale haben, oder dem zuzuordnen sind, was als weiblich oder männlich gilt, können die Option "divers" wählen oder gar keine Angabe machen. Es ist ein Gesetz, das einige Leute verärgert - in sozialen Medien wie Facebook führen sie etwa an, dass Deutschland wohl gewichtigere Probleme habe.

Fest steht jedoch, dass Deutschland als erstes Land in Europa ein derartiges Gesetz geschaffen hat und nun zum ersten Mal offen über etwas gesprochen wird, was es schon seit der Antike gibt: die geschlechtliche Uneindeutigkeit. Körper weiblich und männlich. Damit kein Missverständnis entsteht: Kein eindeutiges Geschlecht meint nicht, dass Menschen wie Michaela Raab - der Deutsche Ethikrat geht von 80.000 Intersexuellen in Deutschland aus - krank sind. Eher ist es wohl so, dass die Geschlechtereinteilung in weiblich und männlich nicht genügt. Als Michaela Raab ein Kind war, hielt man sie für ein Mädchen - wenn auch für ein etwas jungenhaftes.


Drittes Geschlecht: Das ist der erste "diverse" Nürnberger


1995 - Raab war 20 Jahre alt - verkleinerten die Ärzte bei einer Operation das, was sie eine vergrößerte Klitoris nannten. Raab spricht heute von "Penis-Amputation" und hat so gewichtige gesundheitliche Probleme, dass Erwerbsunfähigkeitsrente gezahlt wird. "Davon kann ich nicht leben. Ich wohne bei meinen Eltern, eigentlich ein unhaltbarer Zustand. Seit 2008 nehme ich Testosteron, seither geht’s mir besser." 1995 bekam Raab auch Östrogen verordnet und zu hören, dass die Eierstöcke verkümmert seien. Die Hormongabe sei nötig, um künftige Krankheiten zu verhindern. Verschwiegen wurde, dass ihr Körper weibliche und männliche Geschlechtsteile hat. Raab hat keine Gebärmutter, trotzdem warnten Ärzte, dass das verordnete Östrogen nicht als Empfängnisschutz geeignet sei. Michaela Raab hat ein Y-Chromosom, ist also genetisch ein Mann. Nur mit zwei XX-Chromosomen bilden sich Eierstöcke, Gebärmutter und Eileiter. 

Im Februar 2015 begann das Zivilverfahren vor der Arzthaftungskammer des Landgerichts Nürnberg-Fürth: Wie kompliziert die Sache ist, zeigt sich gleich zu Beginn des Verfahrens. "Wie soll ich Sie ansprechen?", lautet damals die erste Frage von Richterin Brigitte Schmechtig-Wolf - und die Frage traf den Kern. Raab ist weder Mann noch Frau, Personalpronomen mag Raab nicht. Und weil Michaela Raab am liebsten mit vollem Namen angesprochen wird, steht auch in diesem Text oft Michaela Raab.

Patienten sollten nicht verunsichert werden

Im Dezember 2015 erklärten die Richter des Landgerichts Nürnberg-Fürth, wie tragisch und verzwickt, und wie komplex dieser Fall auch rechtlich ist - und stellten zwar keinen Behandlungsfehler der Ärzte fest, doch weil die Operation im Juli 1995 ohne wirksame Einwilligung vorgenommen wurde, war sie rechtswidrig. Die Richter erkannten, dass gerade das Vorenthalten der Wahrheit Raab entmündigt hatte. Sie rügten die mangelnde Aufklärung der Ärzte, sprachen Raab Schadenersatz und Schmerzensgeld zu.

Die Höhe wurde nicht beziffert, sie muss in einer Beweisaufnahme errechnet werden. Gegen dieses Grundurteil legte die Uni-Klinik Erlangen Berufung beim Oberlandesgericht Nürnberg ein und so erklärt Michaela Raab drei Jahre nach dem Ersturteil wieder in einem Gerichtssaal, sich nie als "krank" betrachtet zu haben. Auch Werner Voll, Vorsitzender Richter des 5. Zivilsenats, will wissen, wie er Raab ansprechen soll. Doch dann lassen die Richter des Senats, noch bevor sie in die Beweisaufnahme einsteigen, durchblicken, dass sie Rechtsfehler vermuten und Zweifel am Urteilsspruch der ersten Instanz hegen - und hören Professor Beckmann zu. Welche Aufklärungspflichten hatten die Ärzte damals, lautete der Knackpunkt.

Auf diese Kernfrage stützt die verklagte Universitätsklinik Erlangen, vertreten durch Rechtsanwalt Frank Kroier, ihre Argumentation im Berufungsverfahren. Professor Matthias Beckmann wurde als Zeuge mitgebracht. "Damals glaubte man, man würde die Menschen mit einer eigenbestimmten Entscheidung überfordern", erklärt er - mit "man" meint der Direktor der Erlanger Frauenklinik Ärzte. Patienten sollten zum Schutz der psychosexuellen Gesundheit nicht verunsichert werden. 

"Es geht doch darum, zu wissen, was man ist!"

Wie wichtig Aufklärung ist, weiß heute jeder: Auch wenn es nur um Schnupfen oder Zahnweh geht, Aufklärung und Beteiligung an einer Entscheidung sind, bei allem Respekt vor der Fachkenntnis des Behandlers, zentrale Anliegen jedes Patienten. Zu wissen, was man ist Professor Beckmann zieht einen Vergleich, der unwidersprochen bleibt: Anfang der 90er Jahre habe man auch jeder dritten Frau in den Wechseljahren Hormone gegeben, "im Detail" habe man die Frauen nicht über Nebenwirkungen aufgeklärt.


Michaela Raab kämpft von Roth aus für Rechte Intersexueller


Dabei war damals bekannt, dass sich aus der künstlichen Hormonzufuhr Krebs entwickeln kann. "Keine Gleichbehandlung im Unrecht" lautet eine juristische Argumentationsweise - doch der mit drei männlichen Berufsrichtern tagende Zivilsenat bleibt still. Allein Michaela Raab ergreift das Wort: "Es geht doch darum, zu wissen, was man ist! Als der Verein für Intersexuelle Menschen mir erklärt hat, was ist, fiel die Traumatisierung von mir ab. Bis 2004 habe ich verzweifelt nach Gründen für meine körperlichen Probleme gesucht! Heute weiß ich: Ich bin ein genetischer Mann und habe Östrogen geschluckt.“

250.000 Euro plus eine Rente forderte Michaela Raab über Rechtsanwalt Paul Haubrich - und hat sich nun mit einem Vergleich vor dem OLG mit 40.000 Euro zufriedengegeben. Die Vertreter der Uni-Klinik (Jahresetat 2017: 769 Millionen Euro, 7586 Mitarbeiter, davon 1194 Ärzte) sagen, die Versicherung greife für den damaligen Zeitraum nicht. Mehr als 40.000 Euro seien nicht finanzierbar. Theoretisch steht es Michaela Raab freilich zu, den Vergleich abzulehnen und weiter mit der Klinik zu streiten. Doch nach dem OLG kommt noch der BGH - und das finanzielle Prozessrisiko ist für Michaela Raab nicht kalkulierbar.